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Heute glauben in Europa

Tagung zu Religion zwischen Fanatismus und Beliebigkeit

Vielfältige Radikalisierungsprozesse und Fundamentalismen, eine un­überschaubare religiös-weltanschauliche Vielfalt, aber auch eine zu­nehmende Säkularisierung unserer Gesellschaften in einem immer stärker vernetzten Europa: Unter welchen Bedingungen steht ein verantworteter christlicher Glaube heute – und welchen Fragen und Herausforderungen müssen sich Kirche und Theologie entsprechend stellen?

Die Tagung „Heute glauben in Europa. Zwischen Religionsdistanz und Reli­­gi­onsfanatismus“ vom 5. bis 8. Juni in St. Pölten – mitveranstaltet vom Referat Sekten- und Weltanschau­ungs­fragen der KAMP – brachte dazu unterschiedliche Perspektiven zusammen: Soziologie, Recht, Reli­gionswissenschaft und Theologie. Vor allem aber brachte die ökume­nische Fachtagung die Beauftragten für Sekten-, Religions- und Weltanschau­ungs­fragen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum miteinander ins Gespräch. Die rund 70 Fachleute spüren nicht nur in ihrer praktischen Beratungs- und Informationsarbeit die Auswirkungen der anfangs skiz­zier­­ten internationalen Entwicklungen, sondern iden­tifizieren auch gewissermaßen als Kundschafter ihrer Diözesen und Landeskirchen aktuelle Fragestellungen.

Bild 1: Angeregte Diskussionen bei der Tagung.

Zum Beispiel den Zulauf zu radikalen Formen von Religion, der dann auch immer wieder zu Beratungsfällen führt: Nicht nur die Gefahren des mili­tan­ten Islamismus wurden bei der Tagung angesprochen, sondern auch die Unterstützung fundamentalistischer Christen für den rechts­populis­ti­schen Kandidaten bei der österreichischen Bundespräsi­denten­wahl. Der Schweizer Religionswissenschaftler und Weltanschauungs­experte Prof. Georg Schmid analysierte dazu das Phänomen des religi­ösen Fanatismus und arbeitete dessen Stärken und Schwächen heraus: Fanatismus verhei­ße ein Plus an Engagement und Lebendigkeit, an Verbindung mit dem Ab­so­luten und an Heilsgewissheit und damit auch an Bestärkung des eigenen Ichs. Zugleich schlägt Fanatismus aber immer wieder in Abwertung ande­rer und in Gewalttätigkeit um.

Fanatismus und Fundamentalismus sind aber nicht unabänderlich: Empa­thie mit den Opfern des eigenen Fanatismus wäre eine wirksame Prophy­laxe, so Schmid, weiterhin ein Abbau endzeitlichen Denkens und eine historisch-kritische Betrachtung der eigenen religiö­sen Tradition. Da alle Religionen fanatismusanfällig sind – wenn auch nicht alle im glei­chen Maß zur gleichen Zeit und am gleichen Ort –, bleibt eine Humani­sierung immer wieder aufbrechender Fundamentalismus­schübe eine Dauerauf­gabe lebendiger Religionen.

Internationale religiöse Entwicklungen spiegeln sich aber auch in Ge­richts­prozessen und Gesetzgebung wider. Die Juristin Prof. Brigitte Schinkele stellte dar, wie das Religionsrecht in den verschiedenen europäischen Ländern heute stark von transnationalen Abkommen wie etwa der europäischen Menschenrechtskonvention und von exemplari­schen Urteilen internationaler Gerichtshöfe geprägt wird. Das führe auch zu einer zunehmenden Annäherung der Weise, wie das Verhältnis von Re­li­gionsgemeinschaften und Staat jeweils gestaltet ist: durch ein Staats­kir­chenmodell, durch ein Kooperationssystem oder laizistisch. Das Prinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates ist – frei­lich in unterschiedlicher Umsetzung – heute überall in Europa verankert. Ge­meinsam ist den europäischen Staaten aber auch die Frage, wie man reli­giöse und weltanschauliche Minderheiten religionsrechtlich inte­griert. Das betrifft nicht nur islamische Gruppen, sondern vor dem Hintergrund zunehmender Konfessionslosigkeit auch immer mehr atheistisch-huma­nistische Weltanschauungsgemeinschaften.

Teilweise wird von atheistischer Seite aber auch die negative gegenüber der positiven Religionsfreiheit stark betont – in, so Schinkele, unge­bühr­li­cher Weise als eine Art „Obergrundrecht“ – oder Religion als ein Relikt aus früheren Zeiten aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen versucht. Auf der anderen Seite hört man immer wieder von der Wiederkehr der Religi­on. Gerade angesichts vielfältiger Polarisierungen und Pauscha­lisierun­gen, die von Radikalen verschiedener Couleur für Stimmungs­mache in­strumentalisiert werden, stellten die Tagungsmacher eine nüchterne Analyse der religiös-weltanschaulichen Vielfalt in Europa an den Anfang der Veranstaltung. Der Religionssoziologe Dr. Gergely Rosta zeichnete ein differenziertes Bild eines komplexen Kontinents mit vielen gegenläufigen Tendenzen: Zwar könne man in den meisten Ländern eine Abnahme von Religionszugehörigkeit, religiöser Praxis und Gottesglaube feststellen – dies aber nur langsam und weit entfernt vom völligen Verschwinden von Religion; doch eine Reihe von osteuropäi­schen Ländern zeige auch religi­öse Neuaufbrüche nach der Wende (wäh­rend andere wie Estland und Ost­deutschland hochgradig säkularisiert sind). Gründe für diese Unterschiede sind u. a. konfessionelle Prägun­gen, die Verbindung von nationaler/ethni­scher und religiöser Zuge­hö­rigkeit, Entwicklungen von Wirtschaft und Wohlstand und Generati­onen­unterschiede. Als einen entscheidenden Faktor für den Fortbestand von Religionszugehörigkeit und Religiosität identifizierte Rosta die religiöse Sozialisation im Kindes- und Jugendalter.

Bild 2: Bischöfe im Gespräch (von links): Manfred Scheuer (Bistum Linz) und Michael Bünker (Evangelische Kirche in Österreich).

Kirchliche Weltanschauungsarbeit lebt aber nicht nur von der differen­zier­ten Wahrnehmung der religiösen Gegenwartskulturen, sondern we­sent­lich auch von Dialog und Begegnung. So gehörte ganz selbstver­ständ­lich eine entsprechende Einheit zum Programm der Tagung: In vier Grup­pen besuchten die Teilnehmer eine alevitische Gemeinde in ihrem Cem­haus bzw. eine neohinduistische Yoga-Gruppe und führten Gesprä­che zum Thema messianisches Judentum bzw. mit Vertretern einer muslimischen Initiative zur Prävention und Bearbeitung salafistischer Radikalisierung. Etwas Besonderes war dagegen, dass auch zwei Bischö­fe zum Gespräch über das Tagungsthema kamen: Der Generalsekretär der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa und Bischof der Evangelischen Kirche in Österreich, Dr. Michael Bünker, betonte in einem Statement, dass in Zei­ten religiös-weltanschaulicher Pluralisie­rung religiöse Sprachkompetenz und Auskunftsfähigkeit immer wich­tiger werden; in einem multireligiösen Europa müssten die Kirchen eine radikal beziehungsoffene Praxis vorle­ben, um das gesellschaftliche Zusammenleben zu unterstützen. Denn ein friedliches Miteinander ist deutlich gefährdet, wie der katholische Bi­schof von Linz, Dr. Manfred Scheuer, darlegte: Die zunehmende Komplexi­tät heutiger Gesellschaft sprenge traditionelle Sicherheiten auf und sorge bei nicht wenigen Menschen für Überforderung, die zu Angst führe und leider auch zu aggressivem Verhalten gegen „Andere“, „Fremde“.

Wie können im Gegensatz dazu heute Christinnen und Christen ihren Glauben leben, ohne Andersglaubende und Nichtglaubende abzuwerten und auszugrenzen, aber auch ohne ihren Glauben in Beliebigkeit und Re­lativismus zu verlieren? Zum Abschluss der Tagung stellte deshalb der evangelische systematische Theologe Prof. Ulrich Körtner seine Überle­gun­gen zu Toleranz vor. Dazu ließ er sich vom Begriff der tolerantia Dei inspirieren, wie ihn Martin Luther entwickelt hat. Gott ertrage vieles – auch die Kirche! – in seiner Langmut; in Jesus Christus, der sogar das Kreuz getragen hat und der Feindesliebe gepredigt hat, sei er den Christen Vorbild. Wobei es nicht nur darauf ankommt, den anderen zu ertragen, sondern sich auch des anderen anzunehmen (vgl. Röm 15,7). Da es aber allein Gottes Sache ist, wie christlicher Glaube bei den Menschen Eingang findet, lässt sich Glauben nicht erzwingen – die Christen sollen aber in der Begegnung mit anderen den Raum für Gott offen halten und Zeugen für ihn sein. So ist christliche Wahrheits­gewiss­heit gerade keine Intoleranz, son­dern ermöglicht erst den gehaltvollen Dialog mit anderen – ein Dialog, der den anderen, aber auch mich selbst verändern kann.