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Ein Zwischenruf

Unbestimmt und offen. Indifferenz als theologische Herausforderung

Religiöse Indifferenz fordert Christen dazu heraus, einen realistischen Blick auf die Gegenwart und Zukunft von Glaube und Kirche zu werfen, in einem geistlichen Lernprozess die kleinen Geschichten des Glaubens wertzuschätzen und in den Alltagsbeziehungen das Evangelium Jesu Christi Gestalt werden zu lassen.

„Auch Agnostiker mit Neigung zum Atheismus begehen gerne kleine Sün­den. Deshalb stehe ich sonntags pünktlich um 10.06 Uhr in der Küche, um ‚Kaffee zu machen‘. Tatsächlich höre ich auf Deutschland­funk den Gottes­dienst. Leise, damit meine Frau im Schlafzimmer kein Glockengebimmel vernimmt. Übertragen wird aus Städten wie Emmen­dingen oder Solingen. Ich stehe vor dem Radio wie hinter einem Pfeiler, abseits der Gemeinde, und lasse mich von Orgeln und Chorälen über­fahren. Genieße den sakralen Hall auf der Stimme des Priesters, seinen salbadernden Ton, die schläfrige Weihe des Gebets. Für 15 schwache Minuten stehen meine spirituellen An­tennen auf Empfang. Da fühle ich mich gläubig, ganz ohne Rechen­schaft. Und wenn die Predigt mithilfe rhetorischer Taschenspielertricks mal wieder flotter vom barmherzigen Samariter auf fliehende Syrer kommt als vom Hölzchen aufs Stöckchen, brauche ich mich nicht leise aus der Kirche zu stehlen, sondern schalte einfach ab. Und habe genug Kraft getankt für eine weitere anstrengende Woche als Apostat“ (Frank 2016).

Über 70 % der Bevölkerung verstehen sich weder als engagierte Glau­ben­­de noch als bewusste Atheisten; sie sind irgendwo dazwischen, las­sen die Gottesfrage offen, weil sie davon kaum betroffen sind, wollen wenig oder keine Kirchenbindung, weil sie deren Relevanz nicht sehen. Wir haben in der theologischen und kirchlichen Diskussion ungenaue, eher defizitorien­tierte Begriffe für diese nicht-homogene gesellschaftli­che Mehrheit. Viele sind Kirchenmitglieder, ohne intensiver am Leben der Gemeinden teilzu­nehmen („kirchendistanziert“), manche sind aus­getretene Getaufte („kon­fessionslos“), andere seit Generationen ohne irgendwelche religiösen Bezüge aufgewachsen („konfessionsfrei“). Eini­ge gehören wie Helmut Schmidt zur Kirche, ohne an einen persona­len Gott zu glauben, andere gehören ihr nicht an wie Petra Pau, die sich aber als Christin versteht. Der christliche Glaube ist für sie eine Möglichkeit oder eine Tradition, häufig in agnostischer Gelassenheit ein eher wenig relevanter Teil des Lebens.

„Indifferenz“ bleibt in der theologischen Diskussion, wenn sie als „Inte­res­selosigkeit“ oder „Gleichgültigkeit“ verstanden wird, eine defizitori­en­tierte Zuschreibung: Jede Definition über Abwesenheit oder Mangel bleibt der religiös-kirchlichen Perspektive verhaftet (vgl. Wohlrab-Sahr 2016, 51 f.). Das EKD-Zentrum für Mission in der Region (ZMiR) durch­denkt Indifferenz unter einer missionarischen Perspektive, deshalb spre­chen wir als Team vorläufig von Indifferenz als „Haltung der Unbe­­stimmt­heit“ gegenüber dem Religiösen oder gegenüber der religiösen Repräsenta­tion (Daniel Hörsch, in Anlehnung an Peter Berger). Uns ist bewusst: Inner­halb dieser Gruppe gibt es gravierende Unterschiede, Hal­tungen und Inte­ressen – die Rede von „den Indifferenten“ als Arbeitsbe­griff muss sich stän­dig der Selbstkritik unterziehen, in dem Sinne, dass sozialwissen­schaftliche Zuschreibungen oder theologische Kategorien für ihre Benut­zer auch zu Denk-Gefängnissen oder ‑Sackgassen werden können, wenn sie konkrete Menschen damit erfasst zu haben meinen.

Indifferente sind in unserer Gesellschaft die schon zahlenmäßig größte Herausforderung: Sie fordern die Kirchen und die Ekklesiologie, die Mis­sion und das Evangelium gleichermaßen heraus.

I. Indifferenz als notwendiger Schmerz

Bibel und Kirchengeschichte lehren uns: Die Kirche kann zu Fall kom­men, sich verlaufen oder festrennen, sie kann wie Dornröschen hinter ihren He­cken von der Entwicklung ihrer Gesellschaft abgetrennt schlum­mern. Ei­ne ehrliche Wahrnehmung von Indifferenz könnte eine selbst­zufriedene Kirche aufwecken aus dem Schlaf der Sicherheit. Sie kann allerdings hin­ter ihren Dornenhecken verharren, denn Indifferenz bringt Schmerzen und Ratlosigkeiten mit sich. Wenn Schmerz ein Wahrneh­mungssignal ist, hat Vermeidung langfristig unangenehmere Folgen als sich den Schmer­zen zu stellen. Zu den schmerzhaften Signalen der Indifferenz gehören z. B. die folgenden:

Kränkung. Austritte von Mitgliedern berühren das Wertgefühl der kirch­lich Engagierten, werden – oft unbewusst – als Verletzung gedeutet. „Ist das denn nichts, was wir gemacht haben? Interessiert es eine wachsende Zahl nicht mehr?“ Die darin liegende Kränkung kann zu kirchlicher ‚Anel­­pidose‘ führen, lebensgefährlichem Hoffnungsmangel, „ein Un­glau­be, der unserem Gott die Zukunft nicht mehr zutraut und deshalb lieber Sünden­böcke sucht als schwierige Veränderungen annimmt“ (Pompe 2016, 20; vgl. Pompe 2015, 96 ff.).

Geringschätzung. Wenn die Menschen die Kirche verlassen, schon wenn die Mitglieder die Angebote der Gemeinden nicht nutzen, so ist das auch eine Abstimmung mit den Füßen über Relevanz. Die Angebote und das Leben der Gemeinden scheinen überholt, gestrig, irrelevant. Manche sa­gen: Kirche verliert Marktanteile, also müssten wir marktgängiger wer­den; andere begrüßen diesen Trend, weil das Schrumpfen zu einer ein­deutigen Kirche führe; gemeinsam ist beiden weitgehende Ratlosigkeit, wie dem zu begegnen sei.

Zweifel. Ist das Evangelium vielleicht doch nicht so weltbewegend und lebensverändernd, wie wir glauben? Kirche als Teil einer freien Gesell­schaft muss akzeptieren, dass Menschen die säkulare Option (Charles Taylor) mindestens genauso naheliegt wie die religiöse. Was bedeutet es, wenn Lebensbewältigung ohne das Evangelium gut gelingt? Alle Versu­che, Gott irgendwie als notwendig zu retten, scheitern spätestens hier. Und zumeist wird übersehen, dass die innerbiblische Kritik an einem Gott, der Bedürfnisse befriedigt, viel älter ist.

Resistenz. Wer das Christentum in irgendeiner Gestalt hinter sich zu ha­ben meint, ist ziemlich resistent gegen Neuauflagen, ist wenig oder gar nicht motiviert, Glaube oder christliche Traditionen in der Familie wei­ter­zugeben. Mitte der 1980er Jahre kehrte der Missionar und Bischof Lesslie Newbigin nach langen Jahrzehnten in Indien zurück nach Europa. Als kultursensibler Missionar analysierte er seine ihm inzwischen fremd gewordene Heimat-Kultur: „Das Ergebnis ist nicht, wie wir uns einmal einbildeten, eine säkulare Gesellschaft. Es ist eine heidnische Gesell­schaft, und ihr Heidentum, erwachsen aus der Ablehnung des Christen­tums, ist gegenüber dem Evangelium weitaus resistenter als das vor­christ­­liche Heidentum, mit dem die kulturüberschreitenden Missionen zu tun haben. Hier verläuft mit Sicherheit die missionarische Grenzlinie unserer Zeit, die uns am stärksten herausfordert“ (Newbigin 1989, 23).

Selbstanklage. Eine verbreitete Deutung in der Kirche sieht das Wachs­tum von Indifferenz als eigene Schuld: Wir haben nicht genug gebetet, gepredigt, geliebt – wahlweise: gearbeitet, reformiert, inkulturiert etc. Der anglikanische Bischof Steven Croft sagt, seine Kirche habe zwei konkurrierende Deutungen ihrer Kirchenkrise: eigenes Versagen und Scheitern oder Kirche als Teil des gesellschaftlichen Wandels. Croft hält ‚Versagen‘ für die gefährlichere Deutung: Mit der Selbstanklage zersetze die Säure der Hoffnungslosigkeit das Herz der Kirche. Sie verkläre die Vergangenheit zum goldenen Zeitalter, sie übersehe alles aufbrechende Hoffnungsvolle – und sie blicke mehr auf die Kirche als auf Jesus (vgl. Croft 2009, 2–7; ders. 2012, 14–19).

II. Privilegierte Nostalgie vs. akzeptierte Armut

Indifferenz kann wie ein Skalpell innerkirchliche Schwächen bloßlegen, wenn wir ihre Signale verstehen, uns weder auf Inseln gelingender Kirch­lichkeit zurückziehen noch die Schuld auf andere schieben. Ehrlich­keit nimmt wahr: Unsere eigene Verkündigung und Botschaft sind zu irrele­vant, unsere Gottesdienste und Anbetung erreichen nur eine Min­derheit, unsere soziale Arbeit und unsere gesellschaftlichen Prophetien eröffnen weder breites Interesse noch größere Hinwendung zum Evan­gelium. Be­gegnung mit Indifferenz könnte wie eine bittere Medizin einen Heilungs­prozess auslösen, eine Sehnsucht nach einer neuen Kirche wachsen lassen, die wieder nahe bei ihrem Herrn und nahe bei den Men­schen ist. Das be­deu­tet aber einen von Indifferenz ausgelösten inner­kirch­lichen Klärungs- und Prioritätenprozess.

M. E. haben wir die Wahl, ob wir uns auf sekundäre Felder stürzen, Ener­gie in innerkirchliche Glasperlenspiele stecken oder uns selber als erste auf eine erneute Entdeckung des Evangeliums einlassen. Im Bereich der EKD gibt es aufwändige sekundäre Meinungskämpfe. So wird z. B. unter Teilen der missionarisch Wachen erbittert um den Umgang mit Homo­sexuali­tät gestritten, als ob sich an dieser seelsorglich-ethischen Frage endlich Gut und Böse, wahre und falsche Kirche sauber scheiden ließen. Ein anderer Teil in der evangelischen Kirche sucht nach dem inhaltlichen Kern des kommenden Reformationsjubiläums, kann die historisierende Event-Tendenz vieler Vorbereitungen nur schwer verhindern, sehnt sich nach einem wirklichen „Christusfest“, das sich zwar erbitten, aber kaum pla­nend herbeiführen lässt. Die Ergebnisse der letzten Kirchen-Mitglied­schaftsuntersuchung (KMU) deuten auf eine Beschleunigung der Erosion – wir werden noch mehr und noch schneller Menschen verlieren. Für die römisch-katholische Kirche kann ich solche Meinungskämpfe schwer ein­schätzen, vermute sie aber z. B. in den Deutungsschlachten um das Erbe von Vatikanum II, ähnlich um die sympathisch-irritierenden Be­­mer­kun­gen, Haltungen und Veröffentlichungen des derzeitigen Bischofs von Rom oder in der ungelösten Frage nach Rolle und Auftrag von bzw. Offenheit für Frauen in Leitungsämtern.

Der Herr der Kirche stellt seine privilegierte Gemeinde im reichen Euro­pa in Frage. „Du sprichst: Ich bin reich und habe genug und brauche nichts! und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß“, provoziert Offb 3,17. Eine neue Entdeckung des Evangeliums kann nur eine demütige Suchbewegung Armer vor Gott sein. Was sind wir, wenn Zahlen und Finanzen, Einfluss und Privilegien zurückgehen? Biblisch gesehen ist das die Herausforderung, darin das Wirken des Herrn der Kirche zu entdecken. Ist es Gott selber, der überkommene We­ge und Formate in Frage stellt, uns auf unseren selbstgewählten Wegen scheitern lässt, damit wir das Evangelium wieder suchen und ersehnen, damit wir unsere Welt als unsere Berufung annehmen, unsere Gesell­schaft erneut als Fragehorizont seiner Antworten lesen lernen? Sind wir in der Situation des Bileam, dass wir Blockaden erleben, Schmerzen er­fahren und Zorn auf falsche Sündenböcke aufgeben müssen, um wieder Gott zu vernehmen (vgl. Num 22–24)? Vor einer erneuten Zuwendung vieler zum Evangelium steht die Umkehr der Kirche zu Gott. Und einiges dafür Notwendige kann sie von der Indifferenz lernen.

III. Offenheit unter Vorbehalt

Indifferenz folgt ihren eigenen Gesetzen und Interessen, öffnet ihre Türen dort, wo sie es will, lässt sich auf Beziehungen ein zu ihren Bedingun­gen. Sie entzieht sich einer ihr überflüssig erscheinenden Kirche, sie sucht je­doch nach Relevanz in einer komplexen Welt. Was Bedeutung hat, was sich als wichtig erweist, das findet Interesse, bekommt Gehör, erhält Raum. Diese Offenheit mag auch hedonistische oder narzisstische Züge tragen, will im Kern aber Authentizität als „Treue zu sich selbst“ (Taylor 1995, 22). Sehnsucht nach Authentizität ist nicht verwerflich, sie braucht aber ihre Klärung in der Begegnung mit Christus: „Was soll ich euch/dir tun?“ (Mk 10,36.51), damit seine heilende Frage sie aus ihrer Selbstbezogenheit oder Blindheit erlöst. Auch Indifferenz unterscheidet sich hier nicht von anderen Kulturen oder Strömungen: Viele ihrer Zu­gän­ge und Interessen sind kompatibel mit dem Evangelium – es kommt aller­dings darauf an, sie wahrzunehmen, zu teilen und zu nutzen. Dazu gehören:

Bilder und Geschichten. Die Postmoderne, die skeptische Gegenwart, glaubt den herkömmlichen Traditionen und großen Erzählungen wie dem Christentum nicht mehr, ironisiert sie höchstens in Medien, Kunst oder Kultur, aber sie akzeptiert die kleinen persönlichen Geschichten, das Er­leb­te, Geglaubte, Erfahrene. Die kleinen Geschichten des Glau­bens sind einflussreicher als die großen der Institutionen. Der Alltag wird damit wieder zum Missionsfeld unserer Gesellschaft. Die Postmo­derne spielt ironisch oder herablassend mit alten Bildern, aber sie sucht zugleich ansprechende und bewegende Bilder. Die Unkenntnis der bibli­schen Tradition, der große Traditionsbruch, eröffnet zugleich eine offene Tür: Wir können die bi­bli­schen Bilder und Geschichten neu ins Spiel brin­gen, als Unbekannte haben sie ihre eigene Attraktivität und die Verheißung, dass sie nicht leer zurückkehren werden (vgl. Jes 55,11).

Relevanzen und Interessen. Die relevanten Werte Konfessionsloser unter­scheiden sich nicht gravierend von denen ihrer christlichen Mitbürger: Auch für sie sind Familie, Arbeit, Lebenserfüllung hohe Werte. Aber sie öffnen ihren Alltag nur dort, wo sich Angebote, Herausforderungen oder Beziehungen auch als alltagsrelevant erweisen. „Was habe ich davon?“ erweist sich als Schlüsselfrage und darf nicht als egoistisch abgewertet werden.

Beziehungen und Wertschätzungen. Wenn es einen gemeinsamen Nenner gibt bei Glaubensannäherungen von Indifferenten, dann den: Persönli­che Beziehungen, geteiltes Leben, erfahrene wechselseitige Wertschät­zung und gewachsenes Vertrauen sind die entscheidenden Brücken, auf denen Indifferente sich Religion und Glaube, Gott und Bibel, Gemeinde und Nachfolge nähern können. Eigentlich sollte uns das nicht überra­schen: In diesen Alltagsbeziehungen hat sich das Christentum in den ersten Jahr­hunderten über die antike Welt ausgebreitet, in ihnen leben die wachsen­den und lebendigen Gemeinden des Südens ebenso wie die aufbrechenden Gemeinden in unserem nachchristlichen Kontext.

Geheimnis und Herausforderung. Einladende Verkündigung, Evangelisie­rung ist ein nirgendwo zu überspringender Durchgangspunkt zum Glau­ben, ihre Schwerpunkte verschieben sich aber je nach Kultur, Zeit oder Milieu. Der Anglikaner John Finney hat darauf hingewiesen, dass hier ne­ben Kerygma (Inhalt des Evangeliums) und Euangelion (Ausrichtung des Evangeliums) auch Mysterion (Geheimnis des Evangeliums) zur Evangeli­sation gehört, als Zusammenklang von bildenden, einladenden und spiri­tuellen Aspekten des einen Evangeliums (vgl. Finney 2007, 34 ff.). Interes­san­terweise nähern sich heute viele Menschen einem für sie un­ge­wissen Gott v. a. über spirituelle Wege: Sie beten, bevor sie überhaupt an Gott glauben, sie wollen Erfahrungen machen, bevor sie Gemein­schaft oder Bekenntnis kennenlernen. Das berührt sich mit Bonhoeffers Diktum aus der Tegeler Zelle (1944): „Gott ist auch hier kein Lücken­büßer; nicht erst an den Gren­zen unserer Möglichkeiten, sondern mitten im Leben muss Gott erkannt werden“ (Bonhoeffer 1998, 455). Indiffe­rente spüren sehr genau, ob ihnen ein Mangel zugesprochen wird, des­sen Lösung die Kirche im eigenen Er­hal­tungsinteresse über­nehmen will, oder ob sie als Kandidaten des Rei­ches Gottes im liebe­vollen Blickfeld eines sie herausfordernden Gottes gesehen werden.

Gemeinschaft und Gnade. Eine Gemeinschaft von begnadigten Sünde­rin­nen und Sündern hat ihre eigene Attraktivität: Da kann sich hinzuge­sel­len, wer sich bei den Selbstgerechten nicht wohl fühlen würde. Unter den Zweiflern, die Jesus senden will (Mt 28,17), fallen ein paar mehr auch nicht auf. Es gibt kein stärkeres Argument für Gott als die Gnade – nicht ohne Grund hält sich „Amazing Grace“, der herbe Lobgesang des ehemali­gen Sklavenhändlers John Newton, locker auch unter Spitzen-Pop und Hochkultur. Wo Gottes Gnade erlebt, gefeiert und erzählt wird, bekom­men christliche Gemeinden und Gemeinschaften eine geheim­nis­volle Anziehungskraft, sind sie ein Wohlgeruch, der Leben eröffnet (2 Kor 2,16).

IV. Irgendwo dazwischen

Indifferente sind irgendwo dazwischen, weder wollen sie kräftig glauben noch dem Glauben konsequent absagen, weder wollen sie Gemeinde aktiv gestalten noch in einer Welt ohne christliche Gemeinschaft leben, weder wollen sie Gottesbeziehung wachsen lassen noch sie beenden. Sie leben in einer Art Zwischenraum und es stört sie nicht: Für sie ist es kein Zwischen­raum, sondern ihr Leben. Tomáš Halík hat sie in einem tiefen Gedanken mit Zachäus vergleichen, der lieber auf seinem Baum sitzt, um aus der Distanz beobachten zu können (vgl. Halík 2014). Herabstei­gen werden sie erst, wenn jemand sie so kennt, dass er sie mit Namen ansprechen kann, mit ihnen eine Vertrauensbeziehung aufbaut.

Wir haben kein Recht, ihnen ihr Leben schlecht zu machen, wir haben aber auch kein Recht, ihnen das Evangelium vorzuenthalten. Ihre Di­­stanz ist vielleicht berechtigter Selbstschutz oder verletzte Skepsis, ist in je­dem Fall ihre Würde, ihre Wahl, ihr Lebensmodell. Wir bitten stellver­tretend für Christus auch distanzierte und indifferente Menschen: Lasst euch versöhnen mit Gott! Wie immer diese Bitte aus 2 Kor 5 im indiffe­renten Kontext des 21. Jahrhunderts zu inkulturieren ist, sie äußert sich im Medium, jenem griechischem genus verbi des Dazwischen, zwi­schen Aktiv und Passiv: Beide sind beteiligt, die Bittenden und die Gebetenen. Bevor wir das Recht bekommen, Indifferente zu bitten, müssen wir sie kennen, schätzen, ihr Leben teilen, von ihnen lernen, ihr Gast sein, ihre Freunde kennenlernen, ihre Schätze schätzen (Lk 19). „Die Kirche verliert sich nicht im Außen, sondern sie entdeckt sich dort, weil sie dort erkennt, ob, wohin und wie weit ihr Glaube (sie) hier und heute trägt. [...] Die Wahrheit der Kirche ist situativ“ (Bucher 2012, 60.89).

Die Bibel erzählt häufig Geschichten von Dazwischen-Menschen: zwi­schen Gott und Satan, zwischen Himmel und Hölle, zwischen Aufbruch und Verharren, zwischen dem Land der Knechtschaft und dem verheiße­nen Land, zwischen Torheit und Klugheit, zwischen Arroganz und Gna­de. Manche haben fast moderne Züge von Indifferenz, etwa die Men­schen in Ninive, die sowohl weit weg sind von Gott als auch – zum Ärger von Gottes Boten! – überraschend ansprechbar (Jona 3–4), oder die Frau am Rande Israels, die Jesus mit Verweis auf die Fülle seiner eigenen Gna­de ausrei­chend Brocken abbittet (Mk 7), auch die Frau in der Menge, der eine unbe­obachtete Berührung reicht (Lk 8), auch der zynisch-skep­tische Statthal­ter Festus samt dem fragend-zweifelnden König Agrippa (Apg 26) – ihnen allen gilt Jesu Verheißung, sie sind nicht fern vom Reich Gottes (Mk 12). Aber sie brauchen Menschen, die ihre Indifferenz nicht moralisieren, son­dern akzeptieren. Wenn, dann wollen sie sich auf ihre Weise Gott nähern, lieber von ferne ihr gestörtes Leben vor einen barmherzigen Gott bringen, als offen die eigene Rechtgläubigkeit zu feiern (Lk 18). Und wenn sie auf pure Gnade treffen, dann ist es diese, die berührt. „Gott sei mir Sünder gnädig“ mag häufiger laut werden als wir ahnen: in Zweifeln, Sehnsüch­ten, Neugier oder Ahnung, auch in Des­interesse, Abwehr, Zufriedenheit oder Gelingen. Und vielleicht beginnt jede wachsende Beziehung, jedes tiefere Teilen zuerst mit denen, die für die dazwischen in die Bresche tre­ten, sich in die Unsicherheit wagen, in der füreinander vor Gott gestanden wird (Ez 13,5). Abraham ist das Ur­bild, der für eine Gesellschaft eintritt, deren Werte und Prioritäten er ab­lehnt und die er dennoch der Barmher­zigkeit Gottes empfiehlt (Gen 18). Mit weniger möchte ich mich nicht zu­frieden geben, wo ich auf Indiffe­rente treffe. Und von Gottes Barmherzig­keit lebe ich in meiner eigenen Indifferenz genauso, wie ich einen Abra­ham nötig habe, der für mich eintritt (vgl. Gen 18,16–33).