Vor und mit Gott leben wir ohne Gott
Dietrich Bonhoeffers Theologie eines religionslosen Christentums
1. Theologie der Weltlichkeit
Für Bonhoeffer ist die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus das Ereignis, an dem die liberal-bürgerliche Hoffnung auf eine fortschreitende Humanisierung der Welt zerbricht: Die Barbarei des Nationalsozialismus macht offenbar, dass Gottes Wille und die konkrete Welt nicht deckungsgleich sind und es auch niemals sein werden, egal wie gut menschliche Verfassungen auch sein mögen. Zugleich widerspricht Bonhoeffer aber der Auffassung, dass Gott und Welt in einem prinzipiellen Widerspruch zueinander stehen. Bonhoeffer sieht vielmehr die Doppelgesichtigkeit der Wirklichkeit, die immer Gut und Böse zugleich ist – simul iustus et peccator. Es besteht also kein Dualismus zwischen Gott und der Welt, denn: „In Jesus Christus ist die Wirklichkeit Gottes in die Wirklichkeit dieser Welt eingegangen“ (DBW 6, 39). Diese innere Einheit zeitigt praktische Konsequenzen: Der Christ ist „nicht mehr der Mensch des ewigen Konflikts […] Seine Weltlichkeit trennt ihn nicht von Christus und seine Christlichkeit trennt ihn nicht von der Welt. Ganz Christus zugehörend steht er zugleich ganz in der Welt“ (DBW 6, 48). Um es pointiert auszudrücken: Es geht nicht um „Entweltlichung“, sondern um Christusnachfolge in der Welt.
Die Aufgabe der Kirche besteht dementsprechend darin, in der Welt den Raum freizuhalten für Gott, was nur dort gelingen kann, „wo die Kirche in Solidarität mit der Welt verharrt“ (DBW 12, 270). Fluchttendenzen, auch solche unter christlichem Vorzeichen, nennt Bonhoeffer „hinterweltlerisch“:
„Hinterweltlerisch sind wir, seit wir den bösen Kniff herausbekamen, religiös, ja sogar ‚christlich‘ zu sein auf Kosten der Erde. Im Hinterweltlertum läßt es sich prächtig leben. Man springt immer dort, wo das Leben peinlich und zudringlich zu werden beginnt, mit kühnem Abstoß in die Luft und schwingt sich erleichtert und unbekümmert in sogenannte ewige Gefilde. […] Aber Christus will nicht diese Schwäche, sondern macht den Menschen stark. Er führt ihn nicht in Hinterwelten der religiösen Weltflucht, sondern er gibt ihn der Erde zurück als ihren treuen Sohn“ (DBW 12, 265).
Christen sind also bleibend auf die Welt verwiesen. Das bedeutet aber nicht Anpassung, sondern verlangt, Widerspruch und Widerstand dort zu üben, wo Menschen oder Strukturen dem Reich Gottes, dem Frieden und der Gerechtigkeit, entgegenstehen: „Der Widerspruch gegen die Welt muß in der Welt ausgetragen werden“ (DBW 4, 260).
In diesem Kontext versteht sich auch das bekannte Wort Bonhoeffers: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen“ (Bethge 1983, 685). Es besagt, dass die Kirche stets verpflichtet ist, sich für die einzusetzen, die auf der Verliererseite der Geschichte stehen und unter die Räder kommen. Ihre Aufgabe ist dabei, „nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen“ (DBW 12, 353).
2. Bonhoeffers Idee eines „religionslosen“ Glaubens
Auf dieser Basis kann man sich nun auch dem Begriff der „Religionslosigkeit“ annähern, den Bonhoeffer in seinen Gefängnisbriefen entwirft.
2.1 Bonhoeffers Religionskritik
Erste Ansätze dazu finden sich in Bonhoeffers Religionskritik, die er im Anschluss an Karl Barth entwickelt. Schon 1928 wendet er sich in einem Vortrag gegen eine verbürgerlichte Religion, die mit Arbeit, Alltag und Normalität nichts zu tun hat: die Religion als „gute Stube“, eine Zuckerguss-Religion, die Jesus Christus verharmlost: „Zur Verzierung und Verschönerung unseres Lebens ist er nicht ans Kreuz gegangen. […] Die Religion Jesu Christi ist nicht der Leckerbissen nach dem Brot, sondern sie ist Brot oder nichts“ (DBW 10, 302–303).
Bonhoeffer verweist darauf, dass Jesus selbst ganz und gar „unreligiös“, d. h. gegen die religiösen Vorstellungen seiner Zeit lebte und handelte. Seine Botschaft lautet: Gott kommt zum Menschen nicht über religiöse Bilder und Vorschriften. Der Mensch kann von sich aus Gott gar nicht erreichen; vielmehr muss er ganz „der Hörende, nur der Empfangende“ (DBW 10, 315) werden, damit Gott bei ihm ankommen kann.
„Ethik und Religion und Kirche liegen in Richtung des Menschen zu Gott, Christus aber spricht allein, ganz allein von der Richtung zum Menschen, nicht vom menschlichen Weg zu Gott, sondern von Gottes Weg zum Menschen“ (DBW 10, 316).
Es gibt aber noch einen weiteren Kritikpunkt an der Religion, der sich in der Kritik an den „Hinterweltlern“ zeigte. Bonhoeffer sieht die Religion stets in der Versuchung, sich allein auf eine jenseitige Idee zu konzentrieren, also auf eine weltlose Wahrheit:
„Eine Wahrheit, eine Lehre, eine Religion braucht keinen eigenen Raum. Sie ist leiblos. Sie wird gehört, gelernt, begriffen. Das ist alles. Aber der menschgewordene Sohn Gottes braucht nicht nur Ohren oder auch Herzen, sondern er braucht leibhaftige Menschen, die ihm nachfolgen“ (DBW 4, 241).
Zu dieser theologischen Religionskritik, die auf Karl Barth zurückgeht, tritt in den Gefängnisbriefen als weitere Dimension die existenzielle Religionskritik. Bonhoeffer möchte die modernen Menschen ansprechen, die sich als Mündige verstehen und daher den Gott als Vormund nicht mehr brauchen (vgl. Wüstenberg 2006, 65–84).
2.2 Die Religionslosigkeit der „mündigen Welt“
Diese Herausforderung ergibt sich aus der konkreten geschichtlichen Situation, in der viele Menschen mit Religion nichts mehr anfangen können. Im Unterschied zu vielen Zeitgenossen verwahrt sich Bonhoeffer dagegen, die Moderne einfach als gottlos abzutun, sondern er fragt, „was das Christentum oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist“ (WE, 402).
Das Ende der Religion als historische Prämisse
Diese Frage stellt sich für Bonhoeffer angesichts der Beobachtung, dass die Zeit der Religion offenbar zu Ende gegangen ist. Die Erfahrung des Nationalsozialismus zeigt Bonhoeffer, dass sich die Menschen die Position Nietzsches zu eigen gemacht haben: Sie haben Gott getötet, um frei über sich zu bestimmen – der „tolle Mensch“ beherrscht die Welt: „Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen; die Menschen können einfach, so wie sie nun einmal sind, nicht mehr religiös sein“ (WE, 403).
„Unsere gesamte 1900-jährige christliche Verkündigung und Theologie baut auf dem ‚religiösen Apriori‘ der Menschen auf. ‚Christentum‘ ist immer eine Form […] der Religion gewesen. Wenn nun aber eines Tages deutlich wird, daß dieses ‚Apriori‘ gar nicht existiert, sondern eine geschichtlich bedingte und vergängliche Ausdrucksform des Menschen gewesen ist, wenn also die Menschen wirklich radikal religionslos werden – und ich glaube, daß das mehr oder weniger bereits der Fall ist […] – was bedeutet das dann für das ‚Christentum‘?“ (WE, 403).
Die Infragestellung des traditionellen Christentums ist daher radikal:
„Unserem ganzen bisherigen ‚Christentum‘ wird das Fundament entzogen, und es sind nur noch einige ‚letzte Ritter‘ oder ein paar intellektuell Unredliche, bei denen wir ‚religiös‘ landen können. Sollten das etwa die wenigen Auserwählten sein? Sollen wir uns eifernd, piquiert oder entrüstet ausgerechnet auf diese zweifelhafte Gruppe von Menschen stürzen, um unsere Ware bei ihnen abzusetzen? Sollen wir ein paar Unglückliche in ihrer schwachen Stunde überfallen und sie sozusagen religiös vergewaltigen? Wenn wir das alles nicht wollen, wenn wir schließlich auch die weltliche Gestalt des Christentums nur als Vorstufe einer völligen Religionslosigkeit beurteilen müßten, was für eine Situation entsteht dann für uns, für die Kirche? Wie kann Christus der Herr auch der Religionslosen werden? Gibt es religionslose Christen? Wenn Religion nur das Gewand des Christentums ist – und auch dieses Gewand hat zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden ausgesehen – was ist dann ein religionsloses Christentum?“ (WE, 403–404).
Bonhoeffer liefert hier keine Theologie, sondern eine Zeitdiagnose – ob sie damals richtig war und ob sie so heute noch gilt, mag dahingestellt sein. Man müsste wohl noch mehr differenzieren. Aber bedenkenswert ist der Gedanke allemal, und zwar nicht aufgrund des bloßen Faktums, sondern aufgrund der Konsequenzen, die Bonhoeffer für Theologie und Kirche daraus zieht. Denn die können uns durchaus heute noch zu denken geben. Bleiben wir aber noch einen Moment bei der historischen Analyse. Wie ist es denn überhaupt so weit gekommen? Und warum?
Die „mündig gewordene Welt“
Bonhoeffer sieht einen zunehmenden Prozess der Aufklärung, der mit dem 13. Jahrhundert begonnen hat. Mit dieser Aufklärung, d. h. mit Kant: dem Ausgang des Menschen aus der Unmündigkeit, verlieren Religion und Kirche an Bedeutung:
„Katholische und protestantische Geschichtsbetrachtung sind sich nun darüber einig, daß in dieser Entwicklung der große Abfall von Gott, von Christus, zu sehen sei, und je mehr sie Gott und Christus gegen diese Entwicklung in Anspruch nimmt und ausspielt, desto mehr versteht sich diese Entwicklung selbst als antichristlich“ (WE, 477).
Daraus folgt, dass sich die Kirchen apologetisch gegen die Moderne abschotten:
„Man versucht der mündig gewordenen Welt zu beweisen, daß sie ohne den Vormund ‚Gott‘ nicht leben könne. Wenn man auch in allen weltlichen Fragen schon kapituliert hat, so bleiben doch immer die sogenannten ‚letzten Fragen‘ – Tod, Schuld – auf die nur ‚Gott‘ eine Antwort geben kann“ (WE, 477–478).
Wenn „Gott“ immer weiter zurückgedrängt wird, dann hat Religion nur noch dort Platz, wo die Menschen mit ihrer Gedankenmacht noch nicht hingelangt sind; Religion befindet sich so in einem Rückzugsgefecht vor der modernen Welt. Eine Möglichkeit, sich dagegen zu wappnen, ist der Rückzug in einen antimodernistischen Fundamentalismus, wie ihn im 19. Jahrhundert die katholische Kirche angetreten hat. Die alternative Strategie, die Bonhoeffer im deutschen Protestantismus seiner Zeit sieht und die sich auch im liberalen Katholizismus findet, ist der aufgeklärte Rückzug in die Grenzregionen des Lebens.
Protest gegen den „Lückenbüßer-Gott“
Als Reservate für „Gott“ bleiben so die „Grenzerfahrungen“ der Erkenntnis (Schöpfung) oder der Existenz (Leiden, Tod, Sünde). Je mehr aber auch hier die Wissenschaften Einzug halten, desto weiter wird „Gott“ zurückgedrängt – er wird zum „Lückenbüßer“ für jene Bereiche, wo wir noch keine Lösungen gefunden haben – und in diesen Restgebieten richtet sich die Kirche mehr schlecht als recht ein und versucht den Menschen zu zeigen, dass sie eigentlich Gott doch brauchen, dass sie ohne Gott nicht leben können.
„Die Verdrängung Gottes aus der Welt […] führte zu dem Versuch, ihn wenigstens in dem Bereich des ‚Persönlichen‘, ‚Innerlichen‘, ‚Privaten‘ noch festzuhalten. Und da jeder Mensch irgendwo noch eine Sphäre des Privaten hat, hielt man ihn an dieser Stelle für am leichtesten angreifbar. Die Kammerdienergeheimnisse – um es grob zu sagen – d. h. also der Bereich des Intimen (vom Gebet bis zur Sexualität) – wurden das Jagdgebiet der modernen Seelsorger“ (WE, 509).
Bonhoeffer nennt dies schlicht religiöse Erpressung und warnt davor, sich auf diese Ebene zu begeben. Das sei der Versuch, einen Erwachsenen „in seine Pubertätszeit zurückzuversetzen, d. h. ihn von lauter Dingen abhängig zu machen, von denen er faktisch nicht mehr abhängig ist“ (WE, 478–479). Dieser Versuch ist unchristlich, weil er den Menschen unfrei macht, und von vornherein zum Scheitern verurteilt. Menschen, die gelernt haben, mit den wichtigen Fragen ihres Lebens selbst fertig zu werden, lassen sich nicht mehr religiös gängeln.
„Ich will also darauf hinaus, daß man Gott nicht noch an irgendeiner allerletzten heimlichen Stelle hineinschmuggelt, sondern daß man die Mündigkeit der Welt und des Menschen einfach anerkennt, daß man den Menschen in seiner Weltlichkeit nicht ‚madig macht‘, sondern ihn an seiner stärksten Stelle mit Gott konfrontiert“ (WE, 511).
Bonhoeffers Anliegen ist es daher, Gott wieder mitten ins Leben hereinzuholen:
„Gott ist […] kein Lückenbüßer; nicht erst an den Grenzen unserer Möglichkeiten, sondern mitten im Leben muß Gott erkannt werden; im Leben und nicht erst im Sterben, in Gesundheit und Kraft und nicht erst im Leiden, im Handeln und nicht erst in der Sünde will Gott erkannt werden“ (WE, 455).
So gesehen ist der Niedergang der Religion zugleich ihre größte Chance, weil er dazu zwingt, Gott nicht an den Rändern, sondern wieder mitten im Leben zu suchen.
„Der Christ hat nicht wie die Gläubigen der Erlösungsmythen aus den irdischen Aufgaben und Schwierigkeiten immer noch eine letzte Ausflucht ins Ewige, sondern er muß das irdische Leben wie Christus […] ganz auskosten und nur indem er das tut, ist der Gekreuzigte und Auferstandene bei ihm und ist er mit Christus gekreuzigt und auferstanden. Das Diesseits darf nicht vorzeitig aufgehoben werden“ (WE, 500–501).
3. Christentum in „tiefer Diesseitigkeit“
Hier wird nun klar, warum Bonhoeffers Frage „Wie kann Christus der Herr auch der Religionslosen werden?“ (WE, 404) so zentral ist. Es geht darum, in dieser Welt Christus zu bezeugen – nicht nur in Worten, sondern in Taten –, damit er erkannt und verstanden werden kann, so dass die Menschen glauben und ihm nachfolgen.
„Wie sprechen […] wir ‚weltlich‘ von ‚Gott‘, wie sind wir ‚religionslos-weltlich‘ Christen, wie sind wir […] Herausgerufene, ohne uns religiös als Bevorzugte zu verstehen, sondern vielmehr als ganz zur Welt Gehörige? Christus ist dann nicht mehr Gegenstand der Religion, sondern etwas ganz anderes, wirklich Herr der Welt. Aber was heißt das? Was bedeutet in der Religionslosigkeit der Kultus und das Gebet?“ (WE, 405).
Bonhoeffer sieht die Herausforderung der Zeit darin, eine neue Gestalt des Christentums zu entwickeln – ein „religionsloses“, d. h. weltliches Christentum: „Nicht um das Jenseits, sondern um diese Welt, wie sie geschaffen, erhalten, in Gesetze gefasst, versöhnt und erneuert wird, geht es doch. Was über diese Welt hinaus ist, will im Evangelium für diese Welt da sein“ (WE, 415).
Wir leben in der Welt, aber wir können nicht mehr „religiös“ auf einen allmächtigen „deus ex machina“ hoffen, der in der barocken Oper am Höhepunkt der Not mit Blitz und Donner erscheint und die dramatische Situation mit einem Paukenschlag in Ordnung bringt. Einen solchen Gott gibt es nicht, er ist bloß die religiöse Projektion des Menschen. So bleibt nichts anderes übrig, als eigenverantwortlich in der Welt zu leben, „so als ob es Gott nicht gäbe“ – „etsi deus non daretur“: „Gott als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ist abgeschafft“. Wo aber spielt dann Gott noch eine Rolle? Klar ist für Bonhoeffer, dass es keinen Weg zurück gibt, keinen „salto mortale zurück ins Mittelalter“, denn das wäre nichts anderes als „Heteronomie in der Form des Klerikalismus“, ein Verzweiflungsschritt, der, so Bonhoeffer, nur auf Kosten der intellektuellen Redlichkeit erkauft werden könnte. Aber „wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, daß wir in der Welt leben müssen – ‚etsi deus non daretur‘. […] Vor und mit Gott leben wir ohne Gott“ (WE, 532–533).
„Die Religiosität des Menschen weist ihn in seiner Not an die Macht Gottes in der Welt, Gott ist der deus ex machina. Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen. Insofern kann man sagen, daß die […] Entwicklung zur Mündigkeit der Welt, durch die mit einer falschen Gottesvorstellung aufgeräumt wird, den Blick frei macht für den Gott der Bibel, der durch seine Ohnmacht in der Welt Macht und Raum gewinnt“ (WE, 534–535).
Wir dürfen uns also nicht einfach auf Gott verlassen, sondern müssen um Gottes Willen mit der Welt allein fertig werden, d. h. eigenverantwortlich handeln. Den „deus ex machina“ gibt es für uns nicht; der Gott der Bibel ist „weder kosmischer Terminator noch glorreicher happy-end-Gott“ (Dramm 2001, 250). Wir sind stattdessen auf die Menschen in der Welt verwiesen – und in ihnen finden wir Gott.
„Der Mensch wird aufgerufen, das Leiden Gottes an der gottlosen Welt mitzuleiden. Er muß also wirklich in der gottlosen Welt leben und darf nicht den Versuch machen, ihre Gottlosigkeit irgendwie religiös zu verdecken, zu verklären; er muß ‚weltlich‘ leben und nimmt eben darin an den Leiden Gottes teil; er darf ‚weltlich‘ leben, d. h. er ist befreit von den falschen religiösen Bindungen und Hemmungen. Christsein heißt nicht in einer bestimmten Weise religiös sein, auf Grund irgendeiner Methodik etwas aus sich machen (einen Sünder, Büßer oder einen Heiligen), sondern es heißt Menschsein […] Nicht der religiöse Akt macht den Christen, sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben“ (WE, 535).
Diese Form des Lebens nennt Bonhoeffer „tiefe Diesseitigkeit“:
„Nicht die platte und banale Diesseitigkeit der Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder der Lasziven, sondern die tiefe Diesseitigkeit, die voller Zucht ist und in der die Erkenntnis des Todes und der Auferstehung immer gegenwärtig ist, meine ich“ (WE, 541).
Bonhoeffer erzählt an dieser Stelle ein Erlebnis aus seiner Zeit in den USA: Er erinnert sich an einen jungen französischen Pfarrer, den er dort kennengelernt hatte. In einem Gespräch zwischen beiden ging es um das, was sie aus ihrem Leben machen wollten. „Da sagte er: ich möchte ein Heiliger werden (– und ich halte für möglich, daß er es geworden ist –)“. Bonhoeffer war davon beeindruckt, widersprach aber trotzdem und sagte: „ich möchte glauben lernen“. Den Unterschied sieht Bonhoeffer erst im Gefängnis klar: Früher habe er versucht, so glauben zu lernen, wie man sich bemüht, ein Heiliger zu werden.
„Später erfuhr ich und erfahre es bis zur Stunde, daß man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte priesterliche Gestalt!), einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden – und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, – dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, das ist μετάνοια; und so wird man ein Mensch, ein Christ“ (WE, 542).
4. Kirche morgen: „Beten und Tun des Gerechten“
Und was heißt das für die Kirche, die ja nicht eine religiöse Sondergemeinschaft ist, sondern einfach „das Stück Menschheit, in dem Christus Gestalt wirklich gewonnen hat“ (DBW 6, 84)? Zur Taufe seines Patensohns schreibt Bonhoeffer:
„Es ist nicht unsere Sache, den Tag vorauszusagen – aber der Tag wird kommen –, an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, daß sich die Welt darunter verändert und erneuert. Es wird eine neue Sprache sein, vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösend, wie die Sprache Jesu […], die Sprache einer neuen Gerechtigkeit und Wahrheit, die Sprache, die den Frieden Gottes mit den Menschen und das Nahen seines Reiches verkündigt. […] Bis dahin wird die Sache der Christen eine stille und verborgene sein; aber es wird Menschen geben, die beten und das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten“ (WE, 436).
Es bleibt also zweierlei: „Beten und Tun des Gerechten unter den Menschen“ – daran wird man die Jünger Christi erkennen. Was für die Kirche daraus folgt, lässt sich in einem bekannten Diktum Bonhoeffers so zusammenfassen: „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist“ (WE, 560).
Nun ist unsere Zeit zwar nicht einfach postreligiös oder religionslos, wie Bonhoeffer meinte, sondern von einem multireligiösen „Markt der Religionen und Weltanschauungen“ geprägt, in dem das Säkulare und das Religiöse in eigentümlichen Kombinationen auftreten. Dennoch sind Bonhoeffers Überlegungen bleibend aktuell, denn Christentum und Kirche(n) werden aus diesem religiösen Konglomerat gelöst und neu positioniert – mitten in der Welt und zum Dienst an der Welt. Das gelingt dort, wo Christen im Gebet und Tun des Gerechten den Raum öffnen, in dem Gottes Reich Platz greifen kann. Ein Christentum, das sich nicht in religiösen Fundamentalismen und Streitigkeiten verliert, sondern in „tiefer Diesseitigkeit“ für Christus Zeugnis ablegt. Bonhoeffer hat das für seine Zeit versucht – was es für uns heute bedeutet, das herauszufinden ist unsere ureigene Verantwortung.