Inhalt

Zukunftshorizont Kirche – was Katholiken von ihrer Kirche erwarten

Eine repräsentative Studie aus dem Bistum Rottenburg-Stuttgart

2012 beauftragte die Diözese Rottenburg-Stuttgart das PRAGMA Institut für empirische Strategieberatung mit Sitz in Reutlingen und Bamberg mit einer repräsentativen Studie zu den Erwartungen an die katholische Kirche von Katholikinnen und Katholiken, aber auch der Gesamtbevölkerung. Dazu wurden über 3.000 katholische Christen aus der Diözese Rottenburg-Stuttgart und weitere 1.000 Menschen anderer Glaubensorientierungen, die im württembergischen Teil des Bundes­­lan­des Baden-Württemberg leben, interviewt. In den ausführlichen In­terviews wurden die Menschen u. a. danach befragt, womit sie in der Kirche zufrieden sind, was ihnen fehlt, was sie an die Kirche bindet oder warum sie darüber nachdenken, aus ihr auszutreten, bzw. warum sie diesen Schritt bereits vollzogen haben. Anlass für diese Untersuchung waren die seit 1990 anhaltend hohen Zahlen der Austritte aus der katholi­schen Kirche mit einem traurigen Höhepunkt im Jahr 2010, als die Vielzahl der Fälle sexuellen Missbrauchs durch kirchliche Mitarbei­ter bekannt wurde. Durchschnittlich verlassen jedes Jahr über 10.000 Men­schen die katholische Kirche im Bistum Rottenburg-Stuttgart, was etwa ein halbes Prozent der knapp 1,9 Millionen Katholiken in diesem Bistum ausmacht.

Ausgewählte Ergebnisse dieser Studie wurden 2014 in dem diesem Be­richt zugrundeliegenden Buch veröffentlicht (im Folgenden in Klam­mern genannte Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Buch). Die Dar­stel­lung gliedert sich in 15 unterschiedlich lange Kapitel, die sich zu drei großen Bereichen zusammenfassen lassen: 1.) Grundsätzliche Einstel­lungen zu den Themen Religion/Spiritualität, Glaube/Werte, Kirche sowie Kirchenaustritte, 2.) die Perspektive der PRAGMA-Kommunika­tionsmilieus und 3.) Erwartungen an die Kirche.

1. Grundsätzliche Einstellungen zu Religion, Glaube, Kirche und Kirchenaustritten

Mit 44 % gibt ein hoher Prozentsatz der befragten Katholiken an, sich täglich Zeit für eine religiöse bzw. spirituelle Praxis (Gebet, Meditation, innere Einkehr u. a.) zu nehmen; zusätzliche 31 % tun dies ein- oder mehrmals in der Woche. „Die Offenheit für regelmäßig begangene Wege der Spiritualität besagt nun freilich nicht, dass sich dies in den Bahnen herkömmlicher Kirchlichkeit ... bewegt“ (17). So besuchen 14 % der Katholiken einmal und 4 % mehrmals in der Woche den Gottesdienst (geht man davon aus, dass es sich hier überwiegend um den Sonntags­gottesdienst handelt, so liegt dieser Wert über dem der so genannten Zählsonntage, der für das Bistum Rottenburg-Stuttgart 2012 bei 10,7 % und 2013 bei 9,8 % lag. Diese Differenzen mögen zum einen auf Effek­ten sozialer Erwünschtheit beruhen, könnten zum anderen aber auf unterschiedliche Grundgesamtheiten der Befragung zurückzuführen sein: Während bei den Zählsonntagen alle Katholiken in die Berechnung eingehen, sind bei der hier vorgestellten Studie möglicherweise nur e­r­wachsene Katholiken befragt worden; die bekannte Korrelation von Al­ter und Gottesdienstteilnahme könnte daher für diese Differenz mitver­antwortlich sein). Eine große pastorale Herausforderung stellen dieje­nigen Katholiken dar, die nie (10 %), aber auch diejeni­gen, die ein- bis dreimal im Monat (25 %) oder seltener (24 %) am Gottesdienst teilneh­men – hier gibt es Chancen, Menschen anzusprechen, aber auch Gefah­ren, sie zu enttäuschen.

Schaut man auf die Werte, die den Befragten wichtig sind, so finden sich bei den meisten Nennungen keine oder nur geringe Unterschiede zwi­schen Katholiken und Nichtkatholi­ken; am wichtigsten sind Toleranz, Gesetz und Ordnung, Benachteiligten helfen, Phantasie und Kreativität, Leistung und Beruf und Nachhaltigkeit: Diese Werte werden von jeweils um die 80 % der Befragten für sehr bzw. eher wichtig angesehen. Deut­li­che Unterschiede treten auf beim Gottesglauben (für 80 % der Katholi­ken sehr bzw. eher wichtig, aber nur für knapp 50 % der Nichtkatholi­ken) und bei „Bedürfnisse durchsetzen“ (55 % vs. knapp 80 %). Dies macht deutlich: „Kirchenmitgliedschaft ist keine bloße Gewohnheit, der Gottesglaube ist bei den Katholiken tief verankert. ... Materielle und in­di­­vidualistische Werte sind im Vergleich zur Gesamtbevölkerung deut­lich schwächer, die Orientierung am Gemeinwohl ist dagegen stark ausgeprägt“ (21).

Was bindet Katholiken an ihre Kirche? Von sechs möglichen Motiven der Kirchenmitgliedschaft wurden am häufigsten „... weil ich auf Ritu­ale nicht verzichten will“ und „... weil ich so geprägt bin“ (beide jeweils 69 % Zustimmung) genannt; immerhin 54 % geben „... weil mir der Gottesdienst wohl tut“ an; weitere Nennung beziehen sich auf Kirche als Heimat (48 %), Orientierung bei Wertfragen (51 %) und überzeu­gende Menschen (46 %). Gut drei Viertel der Katholiken verneint die Frage, schon einmal ernsthaft über einen Kirchenaustritt nachgedacht zu haben; umgekehrt hat jeder vierte Befragte (24 %) dies schon einmal getan. Das größte Austrittsrisiko besteht bei den 30- bis 49-Jährigen (31 %), am geringsten ist es bei den über 65-Jährigen (14 %). Als häufig­ster Grund für Austrittsüberlegungen wird bei den Katholiken Entfrem­dung genannt (35 %), erst an zweiter Stelle werden finanzielle Gründe angeführt (15 %), gefolgt von Problemen mit der Moral- und Sittenlehre (14 %), den Missbrauchsfällen (12 %) und negativen persönlichen Er­fah­rungen (11 %).

2. Die PRAGMA-Kommunikationsmilieus

Das diese Untersuchung durchführende Institut hat ein eigenes Milieu­modell entwickelt, das „sowohl die Präferenzen bei Kommunikations­stilen und -inhalten als auch bei den dahinterstehenden Werte-Orien­tierungen untersucht. Zugleich spielt der Grad der Kommunikations­aktivität bzw. -passivität eine wesentliche Rolle“ (60). Das Milieumodell wird durch ein zweidimensionales Koordinatensystem illustriert, des­sen horizontale Achse die Werte-Orientierung darstellt (von Sicherheit über Selbstverwirklichung, Effizienz, Gemeinwohl hin zu Toleranz) und des­sen vertikale Achse die Kommunikationsintensität beschreibt (von passiv zu aktiv). Somit wird der Anspruch erhoben, „erstmals in der Milieuforschung die Konsequenzen aus der Medienrevolution und den gravierenden Verschiebungen der Sender- und Empfängerrollen der letzten Jahre“ (ebd.) zu ziehen.

In dem Modell werden acht verschiedene Milieus unterschieden, von denen drei im Folgenden näher betrachtet werden, da sie aus kirchlicher Perspektive besonders relevant sind. Die Beschreibung der übrigen fünf Milieus bleibt sehr knapp, und auch der theoretische Hintergrund, das Verfahren der Modellierung, der Milieuindikator und der Algorithmus der Zuordnung zu den Milieus werden in dieser Publikation nicht näher erläutert. Im Bistum Rottenburg-Stuttgart ist die katholische Kirche in allen der acht Kommunikationsmilieus vertreten, und zwar in ähnlicher Verteilung wie in der Gesamtbevölkerung. Die Autoren der Studie ge­hen davon aus, dass es zwar eine unterschiedlich starke kirchliche Ver­an­kerung der einzelnen Gruppen, „aber keine entscheidende Milieu-Barriere, die der Kirche den Zugang verwehren würde [, gibt]. Eine we­sent­liche Ursache dafür ist, dass die Grenzen zwischen den Milieus heu­te fließend verlaufen und die Interaktion stark zugenommen hat. Wenn die Kirche daher in kommunikationsstarken Milieus überzeugt, dann entwickelt sie auch Zugkraft auf weitere Bereiche der Gesellschaft“ (57).

Aufgrund der letztgenannten Annahme widmet sich die Studie zu­nächst dem Milieu der „Gemeinwohl-Kommunizierer“: Dieses Milieu stellt „eine wohlhabende, etablierte und selbstbewusste Gruppe im Zentrum der Gesellschaft“ (66) dar, die sowohl gesamtgesellschaftlich wie kirchlich „ein Rückgrat des gelebten Zusammenhalts“ (ebd.) bildet und eine wichtige Multiplikatoren-Funktion übernimmt. Ihre Mitglie­der sind überdurchschnittlich kirchlich aktiv, aber auch kritisch gegen­über kirchlichen Positionen; diese kritische Position führt aber nicht dazu, der Kirche den Rücken zu kehren, vielmehr entscheidet man sich zur Mitarbeit in der Kirche, um sie vor Ort zu verändern. Daher gilt: „Die­se Gruppe stabil an sich zu binden, zählt zu den wichtigsten Her­aus­forderungen der Kirche“ (65).

Die Studie sieht auch in moderneren Milieus unter bestimmten Voraus­setzungen Zukunftschancen für die Kirche, so etwa beim Milieu der „To­le­ranz-Aktivisten“, einem jungen Milieu „mit hoher Nutzung vor allem digitaler Medien und bestimmter sozialer Netzwerke. Ihre Wert-Orien­tie­rung ist stark ausgeprägt und zielt in Richtung Zusammenhalt und Offenheit“ (60). In diesem Milieu ist das Interesse an Religion und Kir­che zwar nur unterdurchschnittlich ausgeprägt, es findet sich unter den katholischen Toleranz-Aktivisten aber auch „eine messbare und fühlba­re Ungeduld mit den Entwicklungen der katholischen Kirche“ (74). Die Erwartungen an eine Wende z. B. hinsichtlich des bisherigen als rigide wahrgenommen Kommunikationsstils der Kirche sind hoch.

Schließlich blickt die Studie auf ein Milieu, das medial relativ viel Auf­merksamkeit auf sich lenkt, aber sowohl in der Gesamtbevölkerung (4 %) als auch in der katholischen Kirche (6 %) nur eine sehr kleine Grup­pe darstellt: die „Konservativen Aktivisten“. Dieses eher ältere Mili­eu nutzt aktiv und passiv sehr stark sowohl klassische als auch neue Me­dien; die Werte-Orientierung seiner Mitglieder lässt sich als „revisionis­tisch konservativ bei hohem Ausgrenzungs- und Aggressionspotenzial“ (61) beschreiben. Die Katholiken dieses Milieus weisen eine traditio­nelle Kirchenbindung auf, die vor allem auf Sakramentenempfang und Heiligenverehrung ausgerichtet ist. Sie neigen zu einem nicht dialogi­schen, führungsbetonten Kommunikationsstil, zeigen eine deutliche Skepsis gegenüber einem offenen Kirchenverständnis und lehnen Refor­men in der Kirche ab. Die Autoren ziehen folgendes Fazit zu diesem Mili­eu: „Zerrissen, radikal und klein – die empirischen Ergebnisse zu den Konservativen Aktivisten legen nahe, die Bedeutung des Milieus zu relativieren. Der schrille Auftritt seiner selbst erklärten Protagonisten in der medialen Öffentlichkeit mag viel mit der Erkenntnis zu tun haben, eine kleine Randgruppe zu vertreten, die in ständiger Furcht vor dem Übersehen-werden lebt“ (86).

3. Erwartungen an die Kirche

Befragt wurden die Menschen in dieser Untersuchung auch danach, ob sich die Kirche in die Gesellschaft einmischen solle. Eine große Mehrheit „erwartet eine noch stärkere oder zumindest im Vergleich zum Jetzt keine geringere aktive Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und politischen Themen und Problemen, die die Menschen im nationa­len und weltweiten Kontext beschäftigen oder die sie im Nahbereich ih­res eigenen Lebens betreffen“ (87). An erster Stelle werden dabei unter Katholiken die Themen Krieg und Frieden genannt, gefolgt von Sterben und Würde sowie Integration. Als im Vergleich am wenigsten wichtig erscheinen der europäische Zusammenhang und die Globalisierung. „Die überwältigende Mehrheit der Katholikinnen und Katholiken möch­te ihre Kirche als Partnerin im Miteinander der gesellschaftlichen und politischen Akteure sehen“ (97). So fordern 89 % aller Befragten, die Kirche solle verstärkt mit gesellschaftlichen Organisationen und Grup­pierungen ins Gespräch kommen.

Hinsichtlich der kirchlichen Kommunikation sprechen die Autoren von einem „kommunikativen Burnout“ (106). Dieser spiegelt sich, so die Autoren weiter, z. B. in einer sinkenden religiösen Artikulations- und Sprachfähigkeit – nicht nur bei Menschen, die nicht kirchenidentifiziert sind, sondern auch unter Angehörigen der katholischen Kirche. Als Qua­litätskriterien für einen kirchlichen Kommunikationsstil nennen Katho­liken an erster Stelle Offenheit und Lebensnähe. Hier ist Kirche aufge­fordert, ihre Kommunikation sorgfältig zu überprüfen und ernsthaft strategisch neu auszurichten.

Der im Bistum Rottenburg angestoßene Dialog- und Erneuerungsprozess wird von einer großen Mehrheit begrüßt; bei der Frage nach den Chan­cen auf positive Veränderungen überwiegen allerdings die Vorbehalte die positiven Erwartungen. Mindestens die Hälfte der befragten Katho­liken zeigt zudem keine oder kaum Bereitschaft, an diesem Prozess mitzuwirken.

Der Missbrauchsskandal hat die Glaubwürdigkeit der Kirche tief be­schä­digt. Die im Bistum eingerichtete „Kommission sexueller Missbrauch“ ist unter Katholiken weithin bekannt (73 %, Nichtkatholiken 65 %). Bei der Frage, ob die Kirche durch die Einrichtung dieser Kommission an Glaubwürdigkeit gewonnen hat, halten sich bei den Kirchenmitgliedern Vertrauen und Skepsis die Waage; bei den Nichtkatholiken überwiegt die Skepsis. Die Ergebnisse werden von den Autoren so interpretiert, dass nur durch Transparenz neues Vertrauen gewonnen werden kann.

Aufschlussreich sind schließlich die Zahlen zur Zufriedenheit der Katho­li­ken mit den unterschiedlichen kirchlichen Ebenen: 59 % sind (sehr oder eher) zufrieden mit der kleinsten Einheit, der Kirchengemeinde, und sogar 61 % mit der Seelsorgeeinheit. Auch das Ergebnis für die Diözese (48 %) wird von den Autoren als hoher Wert eingeschätzt. Für die Kir­che in Deutschland gibt es dagegen nur eine Zufriedenheit von 35 % und für den Vatikan von 27 %, für die Kirche weltweit allerdings wieder von 40 %. Offensichtlich wird zwischen Vatikan und Weltkirche von vie­len differenziert und ist die Einbindung in die Weltkirche für die Katho­li­ken von Bedeutung, so die Studie. Immerhin 42 % der befragten Ka­tho­liken geben an (Zustimmung voll und ganz, eher oder zumindest teilweise), sich mehr in das Gemeindeleben der Kirche einbinden lassen zu wollen. Gefordert ist hier, so die Autoren, eine pastorale „Geh-Struk­tur“ statt einer „Komm-Struktur“, um dieses Potenzial zu nutzen. In den Ergebnissen zur Frage danach, wen man in der Kirchengemeinde kennt (an deutlich erster Stelle mit 50 % der Pfarrer), zeigt sich den Autoren zufolge „ein nach wie vor deutlich pfarrer- bzw. priesterzen­triertes Kirchen- und Gemeindebild“ (133).

Als Fazit halten die Autoren fest: „Viele Kirchenmitglieder sehen die Zukunft der Kirche skeptisch – doch nicht rabenschwarz. Sie sind von Signalen der Abschottung irritiert, hegen aber die Hoffnung einer Öff­nung. Eine Meinungsscheide ist erreicht, bei der die Stimmung in die eine oder die andere Richtung zu kippen droht. In dieser hochempfind­lichen Entscheidungssituation ist es wichtig, dass die Kirche die richti­gen Signale setzt“ (141).

Mit dieser Studie sind viele neuralgische Punkte und Herausforderun­gen angesprochen, vor die sich die katholische Kirche – nicht nur im Bistum Rottenburg-Stuttgart und nicht nur in Deutschland – gestellt sieht. Viele Ergebnisse sind sicherlich nicht unerwartet, doch zeigt sich auch der ein oder andere überraschende Akzent. Die Studie legt eine interessante und detailreiche Momentaufnahme der Situation im Bistum Rottenburg-Stuttgart vor, die sich in vielen Punkten mutatis mutandis auf andere (v. a. westdeutsche) Bistümer übertragen lässt. Es fehlen freilich Daten zum Vergleich in diachroner (wie sind die Zahlen im Vergleich zu früher einzuordnen?) wie synchroner Hinsicht (welche Vergleiche lassen sich zu anderen Bistümern ziehen?). So z. B. muss die Interpretation des Fakts offen bleiben, dass ein knappes Viertel der Ka­tho­liken schon einmal ernsthaft über einen Kirchenaustritt nachge­dacht hat – ist dies als eine hohe oder eine niedrige Zahl zu verstehen? Insgesamt gibt die Studie der Kirche von Rottenburg-Stuttgart und darüber hinaus viele Impulse, ihre Zukunftsfähigkeit zu sichern – vor allem ist sie herausgefordert, die gegenwärtige Entscheidungssituation ernst zu nehmen und nicht einfach nach dem Motto „weiter wie bisher“ zu verfahren.

Tobias Kläden