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Armut als Teil der christlichen DNA

Christliche Lebensführung und materielle Armut

Materielle Armut als das Leben bedrängender und bedrohender Zustand soll von Gott her nicht sein – kein Mensch soll unter Armut leiden. Das einfache Leben Jesu zeigt Gott an der Seite der Armen. Was bedeutet das für das Leben, die konkrete Lebensführung eines „nicht-armen“ Christen? Thomas Laubach nennt drei Aspekte, die alle letzten Endes zum Einsatz für den Anderen her­ausfordern: den Kampf gegen Not und Benachteiligung, spirituelle Armut in der Akzeptanz der eigenen Begrenztheit und evangelische Armut im bewuss­ten Loslassen und Wertschätzen der Dinge.

Ich bin nicht arm. Mir stehen mehr als knapp zwei Dollar pro Tag zur Verfügung. Mein Einkommen liegt auch nicht deutlich unter dem mitt­leren Einkommen, das in Deutschland erzielt wird. Ich leide nicht unter gravierender Benachteiligung und ich kann meine Grundbedürfnisse im Wesentlichen befriedigen: in Sachen Konsum und Ernährung, im Blick auf Gesundheitsversorgung, Bildung, die Ausübung von Rechten und die Möglichkeiten der Mitsprache und Teilhabe. Auch was Sicherheit und Würde sowie menschenwürdige Arbeit angeht, leide ich keinen Mangel.

Ich bin nicht arm. Wie viele andere in unserem Land, wie viele Men­schen weltweit auch. Wieso dann über Armut nachdenken? Weil es ein Skandal ist, dass mehr als eine Milliarde Menschen auf der Erde am Rande des Existenzminimums leben. Weil es ein Skandal ist, dass jeden Tag etwa 30.000 Menschen sterben, weil sie arm sind und hungern. Aber auch, weil Armut, der Umgang mit Armut, die Reflexion darauf und ein Leben in und mit Armut zentrale Bestandteile christlicher Glau­benspraxis sind. Armsein und Armut sind in die christliche DNA, in das Credo christlichen Glaubens eingeschrieben. Zugleich gehören sie aber auch hinsichtlich der praktischen Lebensgestaltung zu den umstritten­sten und schwierigsten Fragen der Glaubenspraxis.

Armut steht am Anfang

Dass die Armut Teil der christlichen DNA sein soll, mag zum Wider­spruch reizen. Schließlich sind gerade in Deutschland die Kirchen Teil einer reichen Gesellschaft. Dazu gehören auch Finanzskandale, teuer renovierte Häuser und Dome und eine immer noch sprudelnde Quelle der Kirchensteuer. Dazu gehört auch, dass in Kirchengemeinden und Gottesdiensten Arme nur selten ein Gesicht haben. Sie sind zwar Gegen­stand karitativer Zuwendung, aber treten als Subjekte in vielen Ge­meinden kaum in Erscheinung.

Das ist umso merkwürdiger, als doch am Anfang des christlichen Glau­bens die Armut steht. Auch wenn sich mit „Stille Nacht, heilige Nacht“ der Schleier süßer Romantik über die Anfänge Jesu ausbreitet, so er­zählen schon die Weihnachtsgeschichten von den erbärmlichen Um­ständen seiner Geburt. Der nackte, hilflose Jesus kommt am Rande der bewohnten Zivilisation zur Welt, ausgeschlossen von den Zentren der Macht, begrüßt von unterprivilegierten Hirten. Theologisch lässt sich das armselige Geborenwerden, Leben und Sterben Jesu als Programm deuten: Christus wird „euretwegen arm“ (2 Kor 8,9), um der Menschen willen. Gott verzichtet in Jesus als Mensch-Gewordener auf all das, was traditionell als göttlich gilt. Am Anfang steht ein im Wortsinn herunter­gekommener Gott. Ein Gott, der die Armut annimmt. Die Armut beglei­tet auch den Wanderprediger Jesus und zeigt sich zuletzt auch in sei­nem Tod. Die Erniedrigung am Kreuz (vgl. Phil 2,6–8) lässt sich dabei als Spiegelbild seiner armseligen Geburt lesen. Zwar überstrahlt das Bild der österlichen Auferweckung die bescheidenen Lebensumstände Jesu, doch sie machen theologisch deutlich, dass die Armut Gottes, die in Jesus Christus Gestalt annimmt, ein zentraler Glaubensaspekt ist.

Materielle Armut soll nicht sein

Gott teilt erfahrbar in Jesus das Menschsein der Menschen, ihre materi­elle Armut, ihre Endlichkeit, ihre Grenzen. Die Armut Gottes in Jesus ist damit kein Selbstzweck. Sie ist vielmehr Programm. Sie macht deutlich, dass Gott allen Armen besonders nahesteht. Zudem fordert sie, dass die „Option für die Armen“ zum Kernbestand christlicher Praxis gehört. So formuliert Papst Franziskus: Den Armen „wird als erste [sic!] die Froh­botschaft verkündigt, dass Gott sie ganz besonders liebt und zu ihnen kommt durch die Werke der Nächstenliebe, die die Jünger Christi in seinem Namen tun. Vor allem zu den Armen gehen: Das ist das Erste“ (Papst Franziskus 2013).

Trotzdem ist es auch in christlicher Hinsicht grundfalsch, Armut zu glorifizieren. Ganz im Gegenteil. Es ist eine christliche Überzeugung, dass Armut nicht sein soll. Armut ist kein Zustand, der von Gott gewollt oder gar gewünscht ist. Armut im Sinne einer materiellen Armut, im Sinne der Verelendung und Mittellosigkeit muss aus christlicher Sicht bekämpft werden. Diese Forderung zielt auf ein individuelles wie sozia­les Handeln. Wenn Armut nicht sein soll, dann ist jede Christin und jeder Christ aufgefordert, in ihrem und seinem Umfeld gegen Armut vorzugehen. Der Einsatz für Menschen am Rande ist damit für alle die Christen, die etwas zu teilen und zu geben haben, unabdingbar. Dieser Einsatz umfasst mehr als den Kampf gegen materielle Armut. Er schließt auch den Kampf gegen jeden Mangel und jede Benachteiligung ein. Zugleich aber müssen sich Glaubende und Kirchen dafür einsetzen, dass strukturell gegen wirtschaftliche Not, gegen jeden Ausschluss aus der Gesellschaft, gegen jede Diskriminierung vorgegangen wird.

Trotz dieser praktischen Überzeugung ist wahrzunehmen, dass das Armsein auch Bestandteil einer christlichen Lebenskunst ist und zum Glauben gehört. In zweifacher Hinsicht: als spirituelle Armut und als evangelische Armut.

Arm im Geiste – spirituelle Armut

Es gehört zum Basiswissen der christlichen Anthropologie, dass jeder Mensch ontologisch, seinsmäßig arm ist. Denn das menschliche Sein verdankt sich anderen, ist kontingent, zufällig, relativ und schicksal­haft. Leben liegt nicht in der Macht des Menschen. Anders formuliert: Leben ist immer begrenzt, endlich und damit arm. An den Grenzen des Lebens lässt sich diese seinsmäßige Armut radikal erfahren: in der Ge­burt und im Tod, in Schicksalsschlägen und in Bedrohung. Eine Antwort auf die Fragen, die diese Erfahrungen hervorrufen, bietet der Glaube an. Als ontologisch Armer kann der Mensch, so glauben Christen, „ganz aus dem Offensein für Gott, aus Vertrauen, Demut, Hingabe ans Geheimnis“ (Boff/​Pixley 1987, 161) leben. Dieses Leben lässt sich als spirituelle Ar­mut kennzeichnen. Spirituelle Armut weiß, dass das ganze Sein auf eine zuvorkommende Annahme durch Gott angewiesen ist. Sie weiß um die „Armseligkeit“ der Existenz, die nicht durch eigene Anstrengungen und Leistungen zur „Seligkeit“ kommen kann. Spirituelle Armut geht des­halb mit einer Absage an alle Ideologien einher, die glauben, der Mensch brauche nicht mehr als Geld, Macht, Leistung oder Status, um ein gelingendes Leben zu führen. Die Haltung, die sich der spirituellen Armut bewusst ist, ist eine Armut des Geistes. Es ist die Armut derer, die ein offenes Herz haben, die bereit sind, sich auf Andere und auf das ganz Andere einzulassen.

Systematisch unterscheiden sich materielle und spirituelle Armut. Praktisch aber lässt sich immer wieder erfahren: Diejenigen, die mate­riell viel haben, kreisen oft genug um sich selbst, die materiell Armen hingegen sind achtsamer für die Nöte anderer. Studien belegen das: Offenheit für Not, Dankbarkeit für die kleinen Dinge, Hilfsbereitschaft und Empathie sind Haltungen, die bei materiell Armen häufiger anzu­treffen sind als bei Besitzenden.

Der Sinn spiritueller Armut knüpft an diese Erfahrung an. Wenn exis­tentielle, ontologisch erfahrene Armut als Armut vor Gott, als Lebensstil verstanden wird, dann öffnen sich drei Perspektiven. Der Lebensstil der spirituellen Armut umfasst erstens eine Freiheit gegenüber den Dingen, zweitens eine Nähe zu den materiell Armen und drittens den Willen, von den Lebenserfahrungen derer zu lernen, die wenig haben. Ausge­hend von der Armut Gottes und der ontologischen Armut des Menschen ist das bewusste Annehmen der spirituellen Armut eine Glaubensent­scheidung. Sie wird im Christentum als Nachfolge Jesu auf den Punkt gebracht. Denn Jesus nachfolgen, das heißt, die eigene Armut anzu­erkennen.

Das Leben in und mit Armut lässt sich religiös verorten und zugleich mit der Frage nach dem persönlichen Lebensstil und dem Stellenwert des Materiellen verknüpfen. Die Frage nach Reichtum und Armut wird so zur existentiellen Frage: Kreise ich um die Dinge, das Geld, meine Bedürfnisse und lasse zu, dass sie letztlich von mir Besitz ergreifen – oder mache ich mir deutlich, dass auch alle Güter meine seinsmäßige Armut nicht „heilen“? Kurz: Nehme ich mich als existentiell Armen an und gehe dementsprechend mit mir und anderen um? Spirituelle Ar­mut erweist sich angesichts dieser Fragen als Möglichkeit, christliches Leben und die Beziehung zu Gott zu praktizieren, ohne dabei die lebens­bedrohliche Dimension der materiellen und benachteiligenden Armut zu vergessen.

Arm, um arm zu sein – evangelische Armut

Die christliche Botschaft ist von einer auf den ersten Blick ambivalenten Überzeugung geprägt. Sie besteht zum einen darauf, dass Armut nicht sein soll. Diese eindeutige ethische Grundentscheidung fordert zum Handeln heraus: zum Kampf gegen alle Armut. Zum anderen aber kennt der Glaube unter dem Begriff der evangelischen Armut eine Lebensweise, die arm auch im materiellen Sinne ist.

Schon im Neuen Testament kommt die freiwillige materielle Armut als Ermöglichung wahren Christseins in den Blick. Damit wird keinesfalls eine sozialromantische Sicht auf die Armut propagiert. Armut, das wis­sen schon die Texte des Neuen Testamentes, bedroht das Leben und beschneidet Freiheit und Handlungsspielräume. Die freiwillig gewählte Armut allerdings kann zur Solidarität führen, zu einer Praxis, die der Armut der Armen abhelfen will (vgl. Rahner 1966).

Seit der Zeit der Bettelorden im Mittelalter gehört die Armut neben Ehelosigkeit und Gehorsam zu den drei sogenannten evangelischen Räten. Der Verzicht auf Güter, Partnerschaft und Macht steht für das Versprechen, in radikaler Form für Gott und den Nächsten da zu sein. Armut ist damit eine der drei umfassendsten Haltungen, die für die entschiedene Nachfolge Christi stehen. Ein doppeltes Missverständnis ist hierbei allerdings vorprogrammiert. Erstens, dass nur Ordensleute Jesus in aller Entschiedenheit nachfolgen können, und zweitens, dass das Leben von „normalen“ Christinnen und Christen defizitär sei. Bis heute besteht die Tendenz, einen Glauben abzuwerten, der sich im All­tag, in der Familie, in Beziehung, in der Welt bewähren muss. So, als könnte jemand, der „in der Welt“ lebt, nicht im Vollsinn christlich leben und handeln. Vergessen wird dabei nicht nur, dass der Umgang mit Gü­tern, die Gestaltung einer Partnerschaft und die verantwortete Selbst­bestimmung des Lebens Tag für Tag große Herausforderungen bereit­halten. Vergessen wird auch, dass Jesus selbst Nachfolge als etwas ver­steht, das sich im Alltag bewähren muss.

Die Idee der evangelischen Armut aber ist keineswegs zwangläufig an ein Ordensleben gebunden. Sie fordert vielmehr grundsätzlich zu einer Antwort auf die Frage heraus, wie Christinnen und Christen mit Geld, Vermögen und Besitz umgehen. Die Botschaft Jesu ist da eindeutig. Sie betont, dass eine zu starke Bindung an Güter unterdrückt und versklavt. Evangelische Armut ist deshalb eine Chiffre. Sie steht für ein Leben, das frei ist und deshalb die Möglichkeit bietet, für andere da zu sein. Armut heißt, nicht einem „Man-muss“ oder „Man-soll“ zu gehorchen, sondern von inneren und äußeren Zwängen befreit das Richtige tun zu können. Evangelische Armut steht zudem für ein Leben, das nicht immer auf seinen eigenen Vorteil achten muss. Sie verhilft dazu, auch die Bedürf­nisse der Anderen sehen zu können. Kurz: Freiwillige, evangelische Armut kann jeder Christin und jedem Christen einen Freiheitsgewinn ermöglichen und zugleich die Beziehung zu bedürftigen Menschen als Praxis der Gerechtigkeit lebendig halten.

Loslassen und Wertschätzen – praktische Konsequenzen

In der christlichen Tradition wird die Haltung, die hinter der bewussten und freiwilligen Armut steht, mit dem Begriff der Askese gefasst. Askese meint dabei mehr als nur das Verzichten, das asketische Leben. Askese, das heißt ursprünglich: „[s]ich ertüchtigen und die rechtschaffene Beson­nenheit üben, sich sittlich üben und ethisch verantwortlich handeln“ (Dienberg 2005, 15). Christliche Askese ist entschiedenes Handeln im Geist Jesu. Sie heißt: umkehren und nachfolgen. Christliche Lebens­kunst im Geist der Umkehr und Nachfolge kann damit gar nichts ande­res sein als ein armes Leben, denn Besitz, Güter, Reichtum hindern bei der Nachfolge.

Aber noch ein zweiter Aspekt ist wesentlich: Selbst einen armen Lebens­stil zu pflegen, das kann offen machen für das, was die tatsächlich Ar­men zu sagen haben, ihnen eine Stimme zu geben und auf sie zu hören. Die Besitzenden können von den Armen lernen, was eigentlich der Kern der Botschaft Jesu ist.

Praktisch ist der asketische Lebensstil derer, die nicht arm sind, durch zwei Haltungen geprägt. Die erste Haltung heißt: Loslassen – Loslassen des Materiellen. Diese Haltung setzt den Wunsch nach Einfachheit und Klarheit in die Praxis um. Sie verzichtet darauf, sich an Dinge und Zwänge zu binden. Zudem bietet diese Haltung die Chance der Freiheit. Loslassen ermöglicht es, frei zu werden gegenüber den Ansprüchen des Konsumierens und Haben-Wollens in allen Bereichen des Lebens. Dazu gehört der Verzicht auf das immer neueste Modell von Smartphone und anderen technischen Geräten. Dazu gehört es, sich von Selbstverständ­lichkeiten zu befreien: selbstverständlich für jede Besorgung das Auto zu benutzen, selbstverständlich jederzeit alles Wissen abrufen zu müs­sen, selbstverständlich Anspruch darauf zu haben, dass im Supermarkt alles jederzeit verfügbar ist.

Eine zweite Haltung heißt: Wertschätzung. Sich an Dinge zu klammern, das entwertet die Dinge. Weil sie wiederum selbst Besitz von einem er­greifen. Weil sie den Menschen beherrschen, sein Denken, seine Wün­sche, sein Handeln. Zugleich aber bringt das Haben mit sich, dass ein­zelne Sachen und Güter gar nicht mehr wertgeschätzt werden können. Wer nicht weiß, wie viele und welche Kleidungsstücke im Schrank hän­gen, der entwer­tet nicht nur das einzelne Kleidungsstück. Der entwer­tet auch die Arbeit all derer, die dafür gesorgt haben, dass Hose, T-Shirt, Pulli jetzt in meinem Besitz sind.

Die beiden asketischen Haltungen des Loslassens und des Wertschät­zens machen deutlich, dass der Verzicht, dass Armut kein Selbstzweck ist. In ihnen gibt sich zu erkennen, dass der Einsatz gegen die tatsäch­liche Armut von all denen, die etwas haben, Verzicht fordert. Auch wenn das Ende der Armut eine Utopie scheint. Ohne den Willen, etwas zu teilen, abzugeben, zu verzichten, wird ein wirksamer Kampf gegen die Armut vergeblich sein. Ohne diesen Willen bleibt auch ein christ­liches Leben Stückwerk.