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Armut: Elend und Verheißung

Ein systematisch-theologischer Umkehrruf

Insbesondere in Lateinamerika führte das Zweite Vatikanische Konzil zu einer Bewegung der pastoralen Umkehr, die versucht, als arme Kirche die Kirche der Armen und mit den Armen zu sein. Sie ist jedoch eine Aufnahme der franziskanischen Armutsspiritualität. In der Person und Verkündigung von Papst Franziskus kommen so mehrere Stränge zusammen, die zu einer pastoralen Neuorientierung auffordern.

In der Unterkirche der Basilika von Assisi gibt es ein Giotto di Bondone zugeschriebenes Fresko, in dem die Vermählung des heiligen Franziskus mit seiner Braut, der Armut, dargestellt wird (hier das gesamte Gemäl­de sowie der entscheidende Ausschnitt). Jesus Christus steht in der Mit­te zwischen dem Heiligen und dessen Geliebter und bekräftigt den Ehe­bund zwischen beiden mit einem Segensgestus.

Die Braut steht im weißen Kleid in der Bildmitte – aber es ist ein Kleid aus Lumpen, form- und schmucklos, Ärmel und Ausschnitt zerrissen. Ein dreifach geknoteter Strick dient ihr als Gürtel. Sie ist einen halben Kopf größer als ihr Bräutigam – der muss zu ihr aufschauen. Ihr Gesicht entspricht in keiner Weise den heutigen Schönheitsidealen. Manche Be­trachter beschreiben sie als alte Frau. Vergleicht man ihr Gesicht mit dem von Jesus, der neben ihr steht (und den sie noch ein wenig über­ragt!), so stellt man jedoch eine große Ähnlichkeit fest: Die beiden sind einander wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie nehmen dieselbe Körper­haltung ein, richten denselben Blick auf Franziskus – wie Zwillinge.

Der poverello hat nur Augen für seine Braut. Er sieht die Äußerlichkeiten nicht. Er ist – ganz offenbar – bis über beide Ohren verliebt. Die trocke­nen Dornen vor der Braut Armut verwandeln sich hinter ihr, in Blick­richtung des Heiligen, in einen blühenden Rosenstrauch.

Der Maler hat Elend und Verheißung der Armut in ein faszinierendes Bild gebracht. Er stellt den Betrachter vor eine Entscheidung, die der heilige Franziskus für sich bereits gefällt hat. Diese Herausforderung gilt auch für uns Heutige, nicht zuletzt, weil auch Papst Franziskus uns mit ihr konfrontiert.

1. Vom Katakombenpakt bis Papst Franziskus. Die Lateinamerika-Connection

Es war ein anderer Papst, der 1963 dieses Thema dem Konzil ans Herz legte: Johannes XXIII. nannte die Kirche in einer Radioansprache genau einen Monat vor Beginn des Konzils „die Kirche aller, vornehmlich die Kirche der Armen“. Bischöfe aus aller Welt griffen diesen Gedanken dankbar auf. Aber trotz der Unterstützung einiger einflussreicher Kardi­näle gelang es nicht, die franziskanische Liebe zur Armut und die ent­schiedene Bekämpfung des Elends an seiner Wurzel konsequent in die Konzilsdokumente aufzunehmen (vgl. Arntz 2015, 29–75).

Für den algerischen Bischof Georges-Louis Mercier lag das daran, dass die große Mehrheit der Bischöfe keinerlei lebenspraktische und spiritu­elle Erfahrungen mit der Armut gemacht hatte. Etwa vierzig Konzils­bischöfe versprachen jedoch in einer lange unbekannt gebliebenen Selbstverpflichtung, die Armut persönlich zu leben, in ihren Diözesen zu verwirklichen und zugleich den realen Kontakt mit den armen Men­schen unmittelbar zu suchen: Der so genannte Katakombenpakt wurde unterzeichnet.

Zwei wichtige lateinamerikanische Bischöfe aus der Gruppe, die den Pakt vorbereitet hatte, die Erzbischöfe Manuel Larraín (Chile) und Hélder Câmara (Brasilien), brachten die Erfahrungen, die Theologie und die prophetischen Visionen aus den Diskussionen um die Kirche der Armen während des Konzils sogleich in ihr nächstes Projekt ein: Die lateinamerikanischen Bischöfe wollten während ihrer zweiten General­konferenz in Medellín (1968) die Beschlüsse des Konzils für die Wirk­lichkeit ihres Kontinentes präzisieren (vgl. ebd. 108–120).

Larraín und Câmara, Präsident und Generalsekretär des lateinamerika­nischen Bischofsrates CELAM, wurden zu maßgeblichen Impulsgebern der Konferenz von Medellín. Das Bekenntnis zu den Armen war nicht nur einer der roten Fäden der Konferenz. Vor allem entwickelte sich Medellín zu einem entscheidenden Wendepunkt in der Spiritualität, dem persönlichen Leben und der Pastoral vieler Bischöfe, Priester, Ordensleute und Laien des Kontinents (und weltweit).

Die Option für die Armen begann, das Leben der Kirche auf dem Konti­nent zu prägen, und brachte eine eigene theologische Bewegung hervor, die Befreiungstheologie. In ihr wurde das Elend der Armut als Sünde, als Herausforderung und als Verheißung theologisch reflektiert. Es dauerte nicht lange, bis der Vatikan diese eigenständige kirchliche Entwicklung zu bremsen begann. Er konnte dabei auf die aktive Unterstützung durch jene Kreise der Kirche in Lateinamerika rechnen, die über den Bruch mit der jahrhundertealten Allianz der Kirche mit den Reichen und Mächti­gen empört waren. Die Liebe zur Armut, zu den Armen und der Kampf gegen die Armut und ihre Ursachen wurden selbst bekämpft, verleum­det und systematisch strukturell ausgegrenzt.

Dennoch konnte das Erbe von Medellín nie wieder ganz ausgemerzt werden. Auch wenn die Generalkonferenzen von Puebla (1979) und Santo Domingo (1992) zahlreiche Einschränkungen und sogar Rück­­schritte brachten, auch wenn durch die gezielte Ernennung von Bi­schöfen, Regenten, Professoren und Ordensoberen versucht wurde, die Befreiungstheologie zurückzudrängen, blieb die Option für die Armen als wichtige Inspiration von Teilen der lateinamerikanischen Kirche immer lebendig.

Die fünfte Generalkonferenz des CELAM, die 2007 im brasilianischen Aparecida stattfand, brachte schließlich eine Wende. Das Abschluss­dokument, in dem die Option für die Armen ausdrücklich ins Zentrum gestellt wird, atmet wieder den Geist von Medellín. In diesem Geist werden auch die Selbstverpflichtungen des Katakombenpaktes und die „Kirche der Armen“ von Johannes XXIII. wieder lebendig.

Es ist kein Zufall, wenn der Vorsitzende der Redaktionskommission die­ses Abschluss­dokuments sechs Jahre später als Papst in seiner ersten Pressekonferenz ausruft, wie sehr er sich „eine arme Kirche für die Armen“ wünsche, um zu begründen, warum er den Namen Franziskus gewählt habe. Es ist kein Zufall, denn die Sehnsucht nach dieser Kirche der Armen war fünfzig Jahre lang in der lateinamerikanischen Kirche lebendig, trotz aller Ausgrenzung und Verfolgung, und konnte in vielen Fällen auch verwirklicht werden.

2. Geliebte elende Armut: Der franziskanische Umkehrruf

Armut ist hässlich. Und dennoch kann man sie lieben. Armut verursacht Leid und Scham, Krankheit und Tod. Und dennoch gibt es Menschen, die sie suchen und sich freiwillig für sie entscheiden. Wie kann das sein?

In der Geschichte der Kirche gibt es beide spirituelle Erfahrungen: die Armut lieben und gegen die Armut kämpfen. Deswegen gibt es auch vielfältige theologische Variationen über das Thema Kirche und Armut. Im Folgenden werde ich vier verschiedene Durchführungen dieses The­mas aufzeigen, die sich nicht widersprechen oder ausschließen, sondern kontrapunktisch ergänzen und erhellen.

2.1 Ein Elend! Armut schreit zum Himmel

Armut ist etwas Schreckliches. Sie ist ein Elend. Sie bringt Hunger und Krankheit, Gewalt und Ausbeutung, Entwürdigung und Scham, Un­glück und Tod mit sich. Vielfach geht sie mit Vertreibung und Flucht, Krieg und Vernichtung, zerrissenen Beziehungen und zerstörter Ökologie einher.

Diese Armut ist nicht nach dem Willen Gottes. Hier ist das Zeugnis der Bibel ziemlich eindeutig: Armut schreit zum Himmel. Gott hört das Schreien der Armen, und die Armen schreien in ihrer Armut zu Gott: Vom Blut Abels (Gen 4,10) über das Volk in Ägypten (Ex 2,23) bis zu den Fremden, Witwen und Waisen in Israel (Ex 22,22) – in der Bibel gilt der Schrei der Armen als berechtigt und wird von Gott auch gehört.

Insbesondere weiß die Bibel darum, dass die Armut Verantwortliche und Verursacher kennt: Es gibt Armut, weil es Ausbeutung, Ungerech­tigkeit und Unterdrückung gibt. Sie fällt nicht vom Himmel, sondern entsteht aus einer verfehlten menschlichen Beziehung: aus der Sünde. Armut aus Ungerechtigkeit ist selbst eine Sünde, eine sündige gesell­schaftliche Struktur, strukturelle Sünde.

Hier unterscheiden sich Tora und Propheten von einem anderen bibli­schen roten Faden, in dem materielles Wohlergehen als göttliche Be­lohnung für gesetzeskonformes Verhalten und Armut und Elend als Strafe für die Sünde angesehen werden. Bereits in der Bibel selbst, vor allem im Buch Ijob, wird dieses theologische Konstrukt jedoch als zu einfach gestrickt kritisiert, weil es auch der tief verwurzelten Überzeu­gung entgegensteht, dass Gott mit den Leidenden ist.

Es wird aber noch in der Gegenwart, vor allem in Lateinamerika und Afrika, aber auch in den Vereinigten Staaten, durch das so genannte „Wohlstandsevangelium“ wieder aufgegriffen. Die Prediger dieses materiellen Heilsversprechens behaupten, dass sich Gottes Segen un­mittelbar am finanziellen Kontostand ablesen lasse, und verbinden dies mit einer vollständigen Entsolidarisierung in Bezug auf die Leidenden. Dies widerspricht jedoch dem biblischen Zeugnis von Gott, der sich auf die Seiten der Armen stellt: Gott hört das Schreien der Armen, handelt selbst und ermöglicht es den Glaubenden, selbst zu handeln.

Dieses Handeln kann – ebenfalls nach dem Zeugnis der Bibel – sehr un­terschiedliche Dimensionen annehmen: vom Almosen und dem selbst­losen Helfen nach dem Beispiel des Samariters über die Sozialgesetz­gebung der Tora und das prophetische Einklagen derselben bis hin zur liturgischen Klage über die Ungerechtigkeit und das Elend in den Psal­men. In der Gegenwart muss darüber hinaus ausdrücklich das politische und gesellschaftliche Handeln für eine strukturelle Überwindung der Armut mit genannt werden. Armut aus Ungerechtigkeit und Sünde schreit zum Himmel und soll nach Gottes Willen nicht sein: Gott ruft uns dazu auf, sie zu beseitigen.

2.2 Gott ist bei den Armen. Und wo ist die Kirche?

Gott ist hungrig, Gott ist durstig, Gott ist fremd und obdachlos, Gott ist nackt, Gott ist krank, Gott ist im Gefängnis (vgl. Mt 25,36 f.). Gott ist bei den Armen. Das ist auch im Leben Jesu nachzulesen, der sich von den Großstädten und Machtzentren seiner Zeit fernhielt (außer von Jerusa­lem, mit tödlichen Konsequenzen) und stattdessen die Armen selig­pries. Die Bettler und die Aussätzigen, die Ausgeschlossenen und Margi­nalisierten seiner Zeit waren sein täglicher Umgang. Zu den Reichen lässt er sich einladen, um ihnen den Spiegel vorzuhalten und sie zur Umkehr aufzurufen.

Paulus schreibt über den sozialen und wirtschaftlichen Status der Men­schen, welche die erste Gemeinde in Korinth bilden: „Das Niedrige in der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt: das, was nichts ist, um das, was etwas ist, zu vernichten“ (1 Kor 1,28).

Die Armen sind die wahren Stellvertreter Christi. Das wusste auch Papst Paul VI. und sprach es den Bauern und Bäuerinnen, Arbeiterinnen und Arbeitern bei seinem Besuch in Kolumbien im Jahr 1968 zu: „Ihr seid Christus für uns“ (Silber 2018, 135).

Dieser Besuch war der Auftakt zur Konferenz von Medellín, in der die Bischöfe des Kontinentes sich zur Gegenwart Gottes in den Armen be­kannten. In den folgenden Jahren kam es zu einer Welle von Ortswech­seln in der Kirche Lateinamerikas: Ordensgemeinschaften verlegten ihren Sitz in die Elendsviertel oder zogen in die Dörfer auf dem Land. Bischöfe wie Dom Hélder Câmara verließen ihre Paläste und zogen in einfache Wohnungen. Seminaristen gründeten Wohngemeinschaften, um ihre Priesterausbildung nicht mehr abgeschirmt von der Gegenwart Gottes in der Welt durchlaufen zu müssen.

Der Ortswechsel war vielfach dabei nur der äußere Ausdruck einer tie­fen geistlichen Bekehrung: Es geht um die Nachfolge der kenotischen Praxis Jesu, der „sich selbst erniedrigt“ (Phil 2,8), um nicht nur den Men­schen gleich zu werden, sondern als solcher zum Sklaven zu werden. Eine Kirche, die sich zu diesem Gott bekennt, muss den Weg Jesu gehen, der „das Werk der Erlösung in Armut und Verfolgung voll­brachte“ (Lumen gentium 8). Dieser Weg führt nicht nur im Sinne eines Ortswechsels hin zu den Armen, sondern auch in ihre Armut.

2.3 Die Armut wird euch frei machen

Der Weg in der Nachfolge Jesu in die Armut der Armen eröffnet eine neue Perspektive auf diese Welt: Die Armut ist zwar ein Ausdruck der strukturellen Sünde, aber sie ist auch der Ort, den Gott sich zur Woh­nung erwählt hat. Denn der christliche Glaube verweist uns auf einen Gott, der „sich selbst arm gemacht“ (vgl. 2 Kor 8,9) und an das unterste Ende der sozialen Hierarchie gestellt hat (vgl. Phil 2,7 f.).

Der Weg in die Armut ist daher nicht nur ein Weg an den Ort des Elends, das nicht nach Gottes Willen ist, sondern zugleich ein Weg zur Begeg­nung mit demselben Gott, der sich freiwillig an diesen Ort begeben hat. Der Weg der Kirche und der Glaubenden in die Armut ist ebenso freiwil­lig, und er kann mit dem Blick der Liebe geschehen, mit dem der heilige Franziskus die Dornen der Armut in Blüten verwandelt.

Es ist ein Weg in die Freiheit. Das ist im Zeugnis des Heiligen von Assisi deutlich zu spüren, aber es ist auch die Erfahrung einer jahrtausende­alten christlichen (und nicht nur christlichen) spirituellen Tradition: Der freiwillige Verzicht auf den Reichtum – die Sicherheiten, die dieser bietet, und die Abhängigkeiten, die er fordert – macht frei für das Leben des Geistes. Wer Gott dienen will, kann nicht zugleich dem Mam­mon dienen, sagt Jesus (Lk 16,13). Und er muss auch nicht mehr dem Mam­mon dienen, sondern wird frei von der Versklavung unter die Ökonomie.

Die Armut bleibt ein Elend, eine Ungerechtigkeit und Ausdruck einer Sünde, die in der Welt der Menschen mächtig ist. Aber in der freiwilli­gen und glaubenden Nachfolge dessen, der sich selbst arm gemacht hat, führt sie auch zur Gemeinschaft und Solidarität mit denen, unter denen Gott selbst zu finden ist. Nur in dieser engen Wechselwirkung von geist­licher Armut und materieller Armut ergeben beide wirklich Sinn und können sich gegenseitig befruchten. Nur in dieser Verbindung drücken sie wirklich aus, worum es in der Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger Jesu geht, was die Freiheit der Kinder Gottes ist (Röm 8,21).

Indem die Kirche die Armut der Armen mit dem franziskanischen Blick der Liebe umarmt, gelingt es ihr, die Welt aus der Perspektive der Ar­men zu sehen und damit – wie der heilige Óscar Romero sagt – sie so zu sehen, wie sie wirklich ist. Aus dieser Perspektive klären sich viele Unge­reimtheiten und Widersprüche der Gegenwart. Die Armen zeigen uns die Wahrheit über die Welt und die Kirche, über die Sünde und die Erlösung.

Die Nachfolge Jesu in die Armut bedeutet aber auch, und darauf haben Befreiungstheologen wie Jon Sobrino immer wieder hingewiesen, sich mit der Perspektive der Armen auch ihre Verfolgung und ihr Martyrium zu eigen zu machen. Romero ist auch dafür ein Vorbild.

Die Freiheit zum Martyrium ist eine extreme Konsequenz. Das Marty­rium zeigt jedoch, wie frei Menschen werden können, die wie Franzis­kus die Liebe zur Armut erwählt haben. Es ist keine absolute Freiheit, sondern gleichzeitig eine Bindung in Solidarität mit den Menschen, die durch ihre Armut unfrei geworden sind. Der poverello nennt die Armut daher auch seine Herrin: Weil er sich ganz in ihren Dienst stellt, macht sie ihn paradoxerweise frei.

2.4 Die Armen sind die Kirche

Die Nachfolge Jesu verlangt nicht nur, dass die Kirche geistlich und ma­teriell arm wird, sondern zugleich, dass sie anerkennt, dass die Armen schon längst selbst Kirche sind. Die Armen erinnern die Theologie dar­an, dass die Kirche nicht nur im Vatikan, nicht nur in den Zentren der Macht und im Realsymbol des geweihten Amtes existiert, sondern in erster Linie in der glaubenden Nachfolge Jesu.

In der Hinwendung zu den Armen und zu Gott, der in ihrer Welt anwe­send ist und sie begleitet, erkennt die Theologie, dass der Geist Gottes sich unter den Armen selbst eine Gemeinschaft der Glaubenden beruft, die in Liebe und Solidarität, Kampf und Kontemplation für das Reich Gottes eintreten. Wenn das Reich den Armen gehört, dann auch die Kirche, und wir Reichen sind es, die wir uns zur Kirche erst bekehren müssen.

Dies ist ein wesentlicher Umkehrschritt für Kirche und Theologie im reichen Norden des Planeten: Die Armen sind die Kirche, die Bewohne­rinnen und Bewohner der Elendsviertel, die Geflüchteten und Vertrie­benen, die indigenen Völker, die marginalisierten LGBT* [Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender etc.; d. Hg.], die vergewaltigten Frauen und Kinder.

Aber auch all die Frauen und Männer sind Kirche, die mitten in und trotz der Armut Widerstand leisten, sei es durch den politischen Kampf, sei es durch die weise Resilienz im Alltag, sei es durch die hoffnungs­volle Freude mitten im Elend. Auch das Engagement in den sozialen Bewegungen und in der Politik ist Ausdruck ihres Kircheseins. Das ist der tiefere Sinn des Dialogs, den Papst Franziskus mit den sozialen Bewegungen der Welt führt.

3. Schluss: Kein romantischer Spaziergang

Ein Umkehrruf birgt immer auch eine Verheißung. So ist es auch mit dem Ruf des heiligen Franziskus zur Herrin Armut. Es ist die Verhei­ßung der Freiheit, die die Armut schenkt, aber auch die Verheißung der Nähe zu Gott, die in den Armen sichtbar wird. Schließlich wird uns als Kirche auch verheißen, dass wir durch die Liebe zur Armut Christus im­mer ähnlicher werden – auch wenn dies bedeutet, Ja zu den Lumpen und Stricken, zu den Beulen und dem Schmutz (vgl. Evangelii gaudi­um 49) zu sagen.

Ein romantischer Spaziergang mit der Geliebten wird das dennoch nicht werden. Zumindest in unseren deutschen Diözesen verlangt die Hin­wendung zur Armut eine klare Bekehrung der Kirche. Und zwar auf allen Ebenen. Von Pastoral und Spiritualität über Theologie, Liturgie und Kirchenrecht bis zu Fragen der Struktur und der Ämter: Immer müssen wir uns die Frage stellen, wie die Bevorzugten Gottes, die Stellvertreter Christi, wie die Kirche der Armen bei uns überhaupt vorkommen, welchen Stellenwert sie besitzen, welche Autorität wir ihnen über uns selbst einräumen. Damit sind die Armen der Welt ebenso gemeint wie die Armen bei uns selbst. Vielleicht verlangt die letztge­nannte Gruppe uns sogar die für uns schwerste Umkehr ab.

Kein romantischer Spaziergang wird das sein, sondern ein Weg mitten durch die Dornen. Aber wer weiß, vielleicht sehen wir ja auch die Blüten.