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Sucht neue Worte, das Wort zu verkünden

Gedanken und Gedichte auf dem Weg zu einer neuen religiösen Sprache

Sprache erschafft eine eigene Welt. Ausgehend von eigenen Erfahrungen mit Sprache wendet sich Andreas Knapp als Theologe und als Dichter der religi­ösen Spra­che und dem menschgewordenen Wort Gottes als Teil einer Bezie­hungswirk­lichkeit zu, die nicht in gegenständlicher Sprache kommuniziert werden kann. Der vorliegende Beitrag ist die Schriftfassung eines Vortrags, den Knapp am 5. Juli 2015 unter dem Titel „Sprachlos vor dem Wort“ anläss­lich der Verabschiedung von P. Clemens Maaß SJ als Akademiedirektor in Dresden gehalten hat.

1. Die Grenzen der Sprache

Zu den Spielregeln meiner Ordensgemeinschaft („Kleine Brüder vom Evan­gelium“) gehört es, einer einfachen Arbeit nachzugehen. Ich habe zehn Jahre lang in Leipzig als Saisonarbeiter in einem Versandbetrieb gearbeitet. Als katholischer Ordensmann inmitten vieler Menschen, die nicht religiös sind, fühlte ich mich manchmal als Exot. Und wenn dann die Rede darauf kam, woher ich komme und warum ich als „Wessi“ nach Leipzig gekommen bin, war das nicht immer einfach zu vermitteln. Manch­mal habe ich gesagt: „Ich bin aus familiären Gründen nach Leip­zig gezogen.“ Nachfrage: „Hast du eine Frau aus Leipzig geheiratet?“ Darauf antwortete ich: „Nein. Aber ich habe hier drei Brüder.“ Großes Erstaunen beim Gegenüber: „Was, drei Brüder?“ Und dann versuchte ich zu erklären, was Ordensbrüder sind und warum wir in Leipzig eine Nie­der­lassung gegründet haben. Doch meistens kam ich schnell an die Gren­zen meiner Sprache: Was ist ein Orden? Das ist doch so eine Aus­zeichnung wie das Bundesverdienstkreuz. So musste ich oft erleben, was Wittgenstein auf den Punkt gebracht hat: „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“

Einmal lud ich einen Arbeitskollegen zum Abendessen in unsere 5‑Raum-Wohnung in Leipzig-Grünau ein. Ich erklärte ihm: „Hier, der erste Raum rechts, das ist unsere Kapelle.“ Mein Kollege schaute mich ungläubig an: „Habt ihr eine Musikkapelle?“ – „Nein. Unsere Kapelle, das ist ein Raum, in dem wir beten.“ „Und was macht ihr da?“ Jetzt wurde es schwierig. Ich kann natürlich ein paar Äußerlichkeiten aufzäh­len: „Wir singen Lieder, wir lesen aus einem alten Buch, wir schweigen. Wir reden mit Gott.“ „Ach, ihr redet mit Gott?“

Wieder einmal versagte es mir die Sprache. Haben wir für Gott noch Wor­te? Oder führen wir religiöse Menschen nicht oft Worte im Mund, die von den meisten Zeitgenossen nicht mehr verstanden werden: Verheißung, Gnade, Huld, das sind Fremdworte für den „homo areligiosus Leipzigensis“.

Wenn ich von meinem Glauben rede, geht es meinen religiös unmusika­li­schen Zeitgenossen wie Kindern, die manche Worte aus dem Gottes­dienst falsch verstehen, weil sie ihnen nicht vertraut sind. Wenn sie et­was vom „zahmen Ritter“ gehört haben (Samariter). Oder wenn sich ein Kind fragt, warum Jesus unter seinem Dach „eingehen“ soll (krepieren); die drei Sterndeuter aus dem Osten bringen Gold, Weihrauch und Möh­ren (Myrrhe); Pontius Pilatus, das klingt wie eine Krankheit mit einem lateinischen Namen: gestorben unter Pontius Pilatus. Und ein Märtyrer, das ist ein Auto mit mehreren Türen (Mehr‑türer).

Einst prägte die Religion den Grundwortschatz unserer Sprache. In man­chen Ausdrucksformen wird dies noch sichtbar. Wenn z. B. auch nicht‑re­­li­giöse Menschen ganz selbstverständlich sagen: „Gott sei Dank, ist alles gut gegangen.“ Oder: „Um Gottes willen!“ Unsere Sprache hat diese Reliquien aus verflossenen Zeitaltern bewahrt. Sie liegen in unse­rer Sprachlandschaft herum wie römische Tempelruinen, in denen schon lange nicht mehr gebetet wird, die man aber auch nicht abreißt – aus Pie­tät. Mag sein, dass sie irgendwann verfallen und Gras darüber wächst. Oder finden die religiösen Menschen wieder eine Sprache, um ihre Erfahrungen zu kommunizieren? Und kann eine solche Sprache auch nicht‑religiösen Zeitgenossen zum Schlüssel werden, um selber in religiöse Erfahrungsräume einzutreten? Zu diesen Fragen sollen ein paar Gedanken und Gedichte Anregungen geben.

2. Zur Sprache kommen

„Im Anfang war das Wort“ (Joh 1,1). So etwas kann man vielleicht von Gott sagen. Aber nicht von uns Menschen. Für uns gilt: Im Anfang war das Erleben. Das Wort kommt erst später. Erleben können nur Lebewe­­sen. Steine verändern sich, aber sie erleben das nicht. Das Erleben ist zunächst etwas Inneres. Ich erlebe etwas. Ich wache auf und habe gute Laune. Oder ich erwache und habe Zahnschmerzen. Ich bin traurig oder ich spüre eine unbeschreibliche Leichtigkeit. Dieses mein Erleben ist etwas ganz Persönliches. Niemand kann in mein Innerstes hinein­schau­en. Natürlich kann man mir ansehen, ob es mir gut oder schlecht geht. Aber mein Gesicht kann auch eine Maske sein. Ich kann meine Gefühle verstecken. „Doch wie das drinnen aussieht, das geht niemanden etwas an!“ Nur ich weiß, wie es mir geht oder wie sich mein Schmerz anfühlt. Andere Menschen können mitfühlen, weil sie Ähnliches erlebt haben. Aber mein Zahnschmerz ist und bleibt mein Zahnschmerz, den nur ich so empfinde.

Was wir innerlich erleben, das wollen wir oft auch äußern. Wir Men­schen haben viele Möglichkeiten, unser inneres Erleben nach außen zu zeigen. Unsere Körperbewegungen, unser Mienenspiel, Lachen und Wei­nen, Stirnrunzeln und Erröten. Und dann die Sprache. Mit dem Geburts­schrei geht es los. Wir äußern Schmerz und Freude, unsere Bedürfnisse. Darin steckt der tiefe Wunsch: Ich will mich bemerkbar machen, will mich anderen mitteilen. Ich will mein Inneres nach außen zeigen und anderen mitteilen. So beginnen wir, die Äußerungen der anderen zu interpretieren und uns darüber zu verständigen. Das ist Sprache. Jetzt kommt das Wort. Und wir treten ein in das schier endlose Gespräch mit uns selbst und mit anderen (vgl. Tiefensee 2005, 77 ff.).

Wie aber verstehe ich eine Äußerung richtig? Unsere Sprache baut eine Welt auf. Durch die Sprache können wir uns selbst verstehen und ausle­gen lernen. Wir können mit Hilfe der Sprache ganze Welten konstruie­ren: die Welt eines Romans, einer Science-Fiction. Die Welt der Physik oder der Biologie braucht eine Sprache, die sie aufbaut. Durch Sprache öffnet sich unsere Welt. Darum können wir reden über Gott und die Welt, über uns selbst und sogar über unser Reden. Die Sprache prägt unser Wahrnehmen. Man kann Dinge beispielsweise in der Sprache der Physik ausdrücken. Max Frisch erzählt in seinem Roman „Homo faber“ von einem Techniker, der in einem Flugzeug unterwegs ist, das in der mexikanischen Wüste eine Notlandung machen muss. Während andere Passagiere die Schönheit des Mondes in der Wüste bestaunen, sagt er: „Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen wie sie sind. Ich sehe: den Mond über der Wüste …, klarer als je, mag sein, aber eine errechenbare Masse, die um unseren Planeten kreist, eine Sache der Gravitation, interessant, aber wieso ein Erlebnis?“ (Frisch 1957, 28). In einer Sprache, die nur die Begriffe der Physik kennt, kann das Staunen oder das Bewundern des Schönen nicht vorkommen.

Die Sprache, in der wir leben, prägt auch das innere Erleben. Es gibt sogar Erfahrungen, die erst mit Hilfe der entsprechenden Sprache zustande kommen. Ein Liebesgedicht etwa benennt nicht nur Gefühle, sondern weckt auch solche. Wenn Verliebte sich ihre Liebe in Worten eingestehen und zum Ausdruck bringen, so wird ihre Sprache zur Schöpfung neuer und tieferer Empfindungen.

Die Sprache schärft die Wahrnehmung. So kennen angeblich die Eski­mos über einhundert Wörter, die mit Schnee zu tun haben. Diese sprachliche Vielfalt verhilft ihnen dazu, unterschiedlichste Arten von Schnee zu erkennen und zu unterscheiden. Die Sprache erschließt uns die Wirklichkeit.

Um ein Beispiel aus dem Feinschmeckerlokal anzuführen: Weinkenner haben ja tolle Begriffe, um Weine zu charakterisieren: Das geht von „blu­­mig“ über „robust“ bis zu „kantig, marmeladig, seidig, stumpf, über­schwäng­lich, vollmundig, weich, wuchtig, würzig, elegant, ge­schmei­­dig“. So kann man etwa auf Etiketten lesen: „Chateau Y: wun­der­bar, beständig, üppiger Reichtum, geschmeidig, ein Feuerwerk von Aro­men, angenehm, offenherzig“ – „Chateau Z: Kostbares, flüssi­ges Gold. Eingehüllt in eine karamellartige Fülle, die so dickflüssig und üppig ist, dass sie am Gaumen noch eine Ewigkeit zu spüren ist.“ Ich bin kein Weinkenner. Ich kann schon unterscheiden zwischen sauer und süß. Aber das differen­zierte Vergnügen des Weinkenners hängt zusam­men mit dem zur Verfü­gung stehenden Vokabular, das bei der Geschmacksbildung Verwendung findet (Robert Spaemann).

Am Anfang ist das Erleben. Und dann kommt das Wort. Das Wort be­wirkt, dass unser Erleben eine bestimmte Färbung und Deutung be­kommt. Ja, ohne das Wort sind wir oft blind und können gar nichts erleben. Denn das Wort macht uns erst aufmerksam, schärft unsere Wahrnehmung und wird somit zur Tür, die uns die Wirklichkeit öffnet. Nun unterscheidet sich die Beschreibung nach Art des Homo faber von einem dichterischen Text. Man kann beispielsweise den anbrechenden Tag als einen bestimmten Moment beschreiben, der durch die Drehung der Erde um die eigene Achse mit einer ganz bestimmten Geschwindig­keit zustande kommt. Man kann Lichtverhältnisse messen. Man kann aber auch ein Gedicht schreiben.

Geburt des Morgens

Der letzte Stern
gibt der Amsel den Einsatz

Im Crescendo des Lichts
wächst die Erwartung des neuen Tages

Der erste Sonnenstrahl
bricht sich in den Nachttränen

Tausendfaches Aufblitzen im Tau
als habe sich der Sternenhimmel
in den Grashalmen verfangen

Alle Farben werden neu erfunden

Ein Atemzug Ahnung
vom ersten Schöpfungstag

Unsere Welt ist gesprächig. Zusammenleben findet nicht nur einfach statt, sondern muss besprochen werden. Deutung legt sich wie ein Netz über die Dinge. Text heißt wörtlich „Gewebe“. Denken wir an das Wort „Textilien“! Dieses legt sich als zweite Haut über die Wirklichkeit, und zwar manchmal so dicht, dass die erste Wirklichkeit darunter ver­schwin­­det oder eine andere Gestalt annimmt. Es gibt Textilien, die uns gut klei­den – und solche, die uns entstellen. In ähnlicher Weise lässt Sprache die Wirklichkeit erscheinen – oder sie verdunkelt sie.

Sprache gehört – wie die Kleidung oder das Haus – zur Kultur, um uns Menschen die rohe Natur wohnlich zu machen. In dieser unersetzlichen Aufgabe der Deutung, der Humanisierung von Welt, liegt aber auch die Versuchbarkeit von Sprache. Sprache kann auch blind machen und täu­schen. Worte können die Wirklichkeit kaschieren oder verzerren. Wir können hier an die Unworte des Jahres denken: Kollateralschaden, Herd­prämie, notleidende Banken, Menschenmaterial, Entlassungs­produkti­vi­tät, Menschenrest (Schwerstpflegebedürftiger), Lügenpresse, Gutmensch.

Sprache kann Wirklichkeit verzerren – oder helfen, uns in der Welt zu­rechtzufinden. Durch Sprache werden wir mit unserer Welt vertraut. Etwas benennen oder etwas einen Namen geben bedeutet etwas ken­nen, damit um­ge­hen können. Etwa ein dumpfes Gefühl: Wenn ich es ausspreche und ihm einen Namen gebe, kann ich leichter damit umge­hen. Eltern geben Kindern einen Namen – das ist wie eine Zeugung: Jetzt bist du jemand. Unsere Sprache schenkt uns Identität und Behei­matung. Wir reden ja von der Muttersprache. Sprache ist der Weg, um zu sich und zu anderen zu finden. Doch wie ist das mit unseren Wegen zueinander? „Gedichte sind einer der kürzesten Wege von Mensch zu Mensch.“ So die große Dichterin Hilde Domin (Domin 1998, 192). Manchmal spüren wir etwas von einer anderen Person. Wir können uns in sie einfühlen, ganz spontan, ohne Worte. In einem wortlosen Blick. Solche Augenblicke sind ein großes Geschenk. Das intuitive Verstehen ist der allerkürzeste Weg von Mensch zu Mensch.

Und dann gibt es das Wort. Ich versuche, einem anderen etwas von mir zu erzählen. Ich sage dir, was ich denke, was ich empfinde, wie es mir geht. Das Wort wird zur Brücke, die ich zum anderen hinüber baue. Und vielleicht kann er oder sie über diese Brücke auch zu mir kommen. Dann begegnen wir uns. Wir lernen uns kennen. Wir verstehen uns. Wir ler­nen uns vielleicht sogar lieben. Worte können Wege von Mensch zu Mensch sein. Aber Worte können auch Barrieren sein. „Die Sprache ist die Quelle aller Missverständnisse“, heißt es bei Saint-Exupéry. Viel­leicht haben Sie schon Situationen erlebt, wo es einfach nicht möglich war, einem anderen etwas von mir zu erklären. Wir machen immer mehr Worte und verstricken uns in endlosen Diskussionen. Zu viele Worte sind der Tod des Verstehens. Umgekehrt reichen manchmal ganz wenige Worte zu einem tiefen Verständnis. Oder sogar ein einziges Wort, das stimmt und das trifft. Ein Wort, das sitzt. In der Eucharistie­feier heißt es: „Herr, sprich nur ein Wort, dann wird meine Seele gesund.“ Wenn wir doch so ein Wort finden könnten!

passwort

jeder mensch
ein verwunschener turm
von sich selber
hinter schloss und riegel gebracht

bewegungsmelder lösen alarm aus
komm mir nicht zu nah
unübersehbar das warnschild
vorsicht bissiger mensch
keine brechstange
kein raffinierter dietrich
nur ein schlüsselwort
zärtlich gesprochen
DU

vielleicht entriegele ich
die sperrkette der angst
und aus dem spaltbreit
ein leises willkommen

3. Von Gott reden

„Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen“, so der große Wiener Philosoph Ludwig Wittgenstein. Gibt es Hoffnung für das Ganze des Lebens? Einen Sinn, der die Gebrochenheit unserer Welt um­schließt? Allzu schnell wird hier das Wort „Gott“ bemüht. Ein Lücken­wort, das in unsere Leerstellen eingesetzt wird. Und ein Wort, das in der Geschichte viel zu leichtfertig in den Mund genommen wurde, um poli­ti­sche oder soziale Verhältnisse zu rechtfertigen, oder gar, um einen Krieg anzuzetteln. Ein Wort, das ideologieverdächtig ist. Martin Buber schrieb einmal: „Ja […] es ist das beladenste aller Menschenworte. Keines ist so besudelt, so zerfetzt worden. […] Die Geschlechter der Menschen […] haben dafür getötet und sind dafür gestorben; es trägt ihrer aller Finger­spur und ihrer aller Blut“ (zit. nach Franz/Maaß 2011, 30). Von diesem Text Martin Bubers inspiriert habe ich folgendes Gedicht geschrieben:

Gott

Unwort der Jahrtausende
blutbesudelt und missbraucht
und darum endlich zu löschen
aus dem Vokabular der Menschheit

Redeverbot von Gott
getilgt werde sein Name
die Erinnerung an ihn vergehe
wie auf Erden so im Himmel

wenn unsere Sprache aber
dann ganz gott los ist
in welchem Wort
wird unser Heimweh wohnen

wem schreien wir noch
den Weltschmerz entgegen
und wen loben wir
für das Licht

Ich stamme aus Süddeutschland und habe auch in Italien und Bolivien gelebt. Aber die Welt in Ostdeutschland ist mir im Blick auf die Religion sehr fremd. In Leipzig sind über 80 % der Bevölkerung religionslos. In ei­nem solchen Kontext kann ich vieles von dem, was mir wichtig ist, mit den Nachbarn oder Freunden nicht teilen. Wie soll ich meinem Arbeits­kollegen erklären, was eine Kapelle ist und was wir tun, wenn wir beten? Es fehlen mir dafür die Worte. Eine ganz andere Erfahrung machte ich in Bolivien, wo ich manchmal in einem Indio-Dorf „Beichte hörte“. Die Leu­te sprachen nur Quechua, eine indigene Sprache, die mir unbekannt war. Ich begann den Beichtritus auf Spanisch. Dann bekannten die Leute ihre Sünden auf Quechua. Am Schluss erteilte ich die Lossprechung auf Spanisch. Obwohl wir keine gemeinsame Sprache hatten, konnten wir uns verstehen. Denn wir waren im gleichen religiösen Kosmos mit sei­nen Riten und Erfahrungen daheim. Ich wusste, dass die Menschen ihre Sünden bekannten. Und die Leute wussten, dass ich von der Barmher­­zig­keit Gottes und von Vergebung sprach.

In Leipzig sprechen religiöse und nichtreligiöse Menschen deutsch. Und doch gibt es wesentliche Erfahrungen, die sie nicht miteinander austau­schen können. Ich frage mich: Kann ich von meiner Gottes-Erfahrung reden? Wann und wie habe ich Gott erfahren? Ich merke, dass mir oft die Spucke wegbleibt und ich sprachlos bin. Den religiösen Menschen schei­nen die Bilder abhandengekommen, um ihre Erfahrungen sprach­lich zu kommunizieren. Alle Menschen suchen wohl nach Hoffnung, Verge­bung, Segen und wollen ihre Endlichkeit und die Sehnsucht nach dem Bleibenden thematisieren. Aber es fehlen die Worte … Vor den Wundern des Lebens fühlen wir uns wie Parzival in der Gralsburg: unfähig, auch nur eine einzige Frage zu stellen.

Der Sprache geht es um das Ganze der Welt. Denn Kommunikation will ja die verschiedenen und unterschiedlichen Aspekte miteinander ver­knüp­fen und zu einem Zusammenhang verweben. Wenn es um das Ganze geht, dann stellt sich auch die Frage nach dem Sinn des Ganzen. Und hier wird die Sprache zum Medium, um tiefer zu schauen. Begriffe sind ja nicht eindeutig, sondern es schwingen sehr verschiedene Bedeu­tungen mit. Auf etwas deuten will auch sagen: Ich weise auf etwas hin und zugleich weise ich über es hinaus. Es hat eine Bedeutung. So wird die Sprache zum Medium für Sinn. Es ist eine der großen Herausforde­rungen an die Theologie, diese tiefere Dimension aller Dinge offenzu­legen. Also: Die Welt deuten zu helfen und erfahrbar zu machen, dass hinter den Dingen noch mehr steht. Ingeborg Bachmann sagte einmal: „Es muss noch mehr als alles geben.“ Aber haben wir noch Worte für diesen Mehrwert der Welt? Seit vielen Jahren bemühe ich mich, als Theologe und Priester, für meine religiösen Erfahrungen eine Sprache zu fin­den. Gerade der Kontext, in dem ich lebe, fordert mich heraus, über meinen Glauben noch einmal anders nachzudenken und manchmal auch um ihn zu ringen.

wo bist du

ich rudere
zu gott
ins uferlose

ich greife
nach gott
ins unfassliche

ich schreie
nach gott
ins unerhörte

ich spähe
nach gott
im aussichtlosen

ich brenne
nach gott
noch im erloschenen

Der Theologe und Literaturwissenschaftler Karl-Josef Kuschel stellt fest, dass sich die traditionelle religiöse Sprache von der Lebenswirklichkeit entfernt hat. „Ihre Bilder kommen noch aus Sprachwelten, die längst versunken sind“ (Kuschel 1997, 11). Wir reden von Gott als König, als Herrscher, als gnädigem Richter. Aber ist das noch unsere Welt? Wie kön­nen wir in Begriffen von Gott reden, die unserer modernen Gesell­schaft entsprechen? Irgendwie ist es noch komisch, wenn wir von Gott als Präsi­denten, als Vorsitzendem oder Generalsekretär sprechen wür­den. Für viele Zeitgenossen ist die religiöse Sprache eine Fremdsprache. Begriffe aus der Symbolwelt des Glaubens liegen noch in unserer Sprach­land­schaft herum, wie Ruinen aus anderen Zeiten. Die religiöse Sprache hat musealen Charakter und wirkt daher künstlich, oft irgend­wie übertrie­ben feierlich, altbacken. Bruno Latour schreibt in seinem Buch „Jubilie­ren“: „Einst war die Ausdrucksform der Religion frei und erfinderisch. Doch heute zerfällt diese Sprache auf unserer Zunge. Das, was einmal so viel Sinn hatte, wird heute geradezu widersinnig, wie ein Wortschwall, der in der Kälte Sibiriens auf den Lippen Verbannter erfriert“ (Latour 2011, 9). Die religiösen Worte haben für viele nicht mehr die ge­ringste Wirkung. Gleichgültig gleiten sie an unserem Leben ab wie Regen­tropfen an einer Windschutzscheibe. Der Theologe Fridolin Stier sagte selbstkritisch an die Sprache der christlichen Predigt gerich­tet: „Schwüls­tig ist diese Sprache. Und sie leidet auch wirklich an Ge­schwüls­ten“, an Fettwucherungen. Diese Sprache mit dem klebrigen Pathos bräuchte entfettende Pillen.

Unsere theologische Sprache darf nicht so vollmundig daherkommen. Denn Gott ist doch das, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, wie Anselm von Canterbury formulierte. Deus semper maior, Gott ist immer größer als unsere Worte, Bilder, als unsere Begriffe. Es gibt Erfahrungen, die wir in Worten nie angemessen ausdrücken kön­nen. Wenn ich etwa einer Person sagen will, dass ich sie liebe, dann beginne ich herumzustammeln und zu stottern. Denn meine Worte sind viel zu dürftig, um das zum Ausdruck zu bringen, was ich empfinde.

Das gilt auch für unsere religiösen Erfahrungen. Angesichts Gottes ver­sagt unsere Sprache. Das Bilderverbot des Alten Testaments bringt dies zum Ausdruck: dass wir uns von Gott keine Bilder und auch keine Sprach­bilder machen können. Vor Gott sind wir sprachlos. Denn Gott ist der Namenlose, der Unaussprechliche.

Zugleich aber wollen wir mit Gott in Beziehung treten. Und der ur­sprüng­liche Sinn von Sprache ist ja, uns die Welt vertraut zu machen und Beziehung zu stiften. Was aber, wenn die religiöse Sprache das nicht mehr vermag? Wenn sie als fremd und befremdlich empfunden wird, dann bietet sie keine Heimat mehr. Wenn die religiösen Worte tot und kalt wirken? Wenn sie nichtssagend geworden sind, dann lassen sie Gott nicht mehr zu Wort kommen – und haben ihren ursprünglichen Sinn verloren.

Unser Wort Geheimnis meint: das Gesamt dessen, worin wir daheim sind. Die Vorsilbe Ge- meint im Deutschen das Gesamt, so wie etwa das Gebirge das Gesamt der Berge ist. Das Geheimnis ist also das Umfassen­de von Heimat und Geborgenheit. Wenn Kinder ein Geheimnis haben, so meinen sie oft etwas, zu dem nur sie Zutritt haben. Ein Geheimnis ver­bin­det sie untereinander und schenkt ihnen Vertrautheit und Zugehö­rigkeit. Das Wort Geheimnis ist auch ein religiöses Wort. Für religiöse Menschen ist Gott das Geheimnis dieser Welt, das heißt: das Gesamt, in dem alle Welt daheim ist oder irgendwann einmal nach Hause kommt. Gott als umfassende Wirklichkeit, der sich unsere kleine Wirklichkeit verdankt. Doch von Gott reden ist schwer. Denn Geheimnis meint ja auch gerade, dass wir es nicht fassen können, dass es uns entzogen ist. Vielleicht ist hier die Sprache der Poesie besonders gefragt. Wir können vom Mond in den Begrifflichkeiten der Physik reden: die Masse, die Umlaufgeschwindigkeit. Und wir können vom Mond in der Sprache der Schönheit reden wie Maler und Dichter. Von Gott können wir nur in dieser zweiten Sprache reden. Die umfassende Wirklichkeit entzieht sich jedem kühlen Kalkül. Weil sie umfassend ist, kann man sie nicht messen. Wer Gott begreifen will, vergreift sich. Ihn messen zu wollen, wäre vermessen. Es ist wie bei der Schönheit oder der Liebe. Man kann sich nur hingeben, sich loslassen, vertrauen. Dann kann es geschehen, dass ich erlebe: Ich bin getragen, geborgen, gehalten in einem größeren Ganzen, in einem Geheimnis.

Manchmal hilft ein Perspektivenwechsel, um das Altehrwürdige neu zu sehen und anders zu sagen.

von gott aus gesehen

ist unser suchen nach gott
vielleicht die weise wie er uns auf der spur bleibt
und unser hunger nach ihm das mittel
mit dem er unser leben nährt

ist unser irrendes pilgern
das zelt in dem Gott zu gast ist
und unser warten auf ihn
sein geduldiges anklopfen

ist unsere sehnsucht nach gott
die flamme seiner gegenwart
und unser zweifel der raum
in dem gott an uns glaubt

Wir können von Gott, der ja unermesslich ist, nie angemessen reden. Zugleich wohnen wir als Menschen im Haus der Sprache, wollen und müssen kommunizieren und als Christen sogar Zeugnis über unsere Erfahrungen abgeben. Aber nicht naiv und unbedarft, nicht in festge­stanzten Sprachbildern der Tradition und schon gar nicht im Bewusst­sein, dass ich mit dem Begriff auch schon die zur Frage stehende Sache ergriffen hätte. Wir können von Gott nie präzise, klar und eindeutig reden. Die sogenannte Negative Theologie hat immer den Vorrang des Schweigens betont. „Negativ“ meint in diesem Zusammenhang nichts Abfälliges, sondern eine kritische Läuterung unserer Sprache und Bilder in Bezug auf Gott.

Die Negative Theologie erinnert daran, dass man von Gott nichts aussa­gen kann, was man nicht zugleich auch wieder durchstreichen müsste. Schon Augustinus wusste: „Wenn du es begreifst, dann ist es nicht Gott.“ Und Thomas von Aquin formulierte später: „Wir wissen von Gott eher, was er nicht ist, als was er ist.“ Wer von Gott etwas sagen will, dem versagen sich die Worte. Das Gesagte muss dem Ungesagten und eigent­lich Unsagbaren erst abgerungen werden. Mit den Worten Latours: „Es gibt keine religiöse Rede, die nicht zögerte, stotterte, unbeholfen wäre“ (Latour 2011, 120). Die Sprache von Gott müsste durchzittert sein, weil sie es wagt, von einem Unsagbaren zu sprechen. Man müsste einer solchen Sprache ihren Wegcharakter anmerken, ihre Ungesichertheit, ihre Obdachlosigkeit.

Im Alten Testament findet sich die rührende Geschichte, wie Salomo Gott ein Haus bauen will. Und dann wird im berühmten Gebet zur Tempelweihe formuliert: „Die Himmel der Himmel fassen dich nicht. Wie viel weniger dieses Haus“ (1 Kön 8,27). Darauf bezugnehmend habe ich ein Gedicht geschrieben:

salomos tempel

vermessenes raumangebot
für den unfasslichen
flüsterhalle des unaussprechlichen

zerstörung ist
vorprogrammiert als
richtfest des gottesbildes

nur die leerstelle
nie zu besetzen
ist Sein thron

Eine wichtige Gestalt des Alten Testaments, die uns alles leichtfertige Reden von Gott verbietet, ist Hiob. Angesichts des Leidens versagen alle glatten Rechnungen mit Gott. Man kann den Glauben an Gott nicht mit irdischem Wohlergehen verrechnen. Es bleibt ein Rätsel, warum die Welt so ist, wie sie ist. Es gibt keine Antwort auf die Frage nach dem Warum des Leidens. Glaubende wie Nichtglaubende verstummen vor dieser großen Frage.

Hiob

unter unbestirntem Nachthimmel
hin und her getrieben
von Irrlichtern des Schmerzes

die Knie aufgeschürft
vom vergeblichen Beten
Wundbrand des Zweifels

in schlaflosen Nächten
brüllst du den Himmel an
bleibst ihm keine Frage schuldig

Wortwechsel zwischen dir und ihm
werft ihr euch gegenseitig
die Fragezeichen an den Kopf

am Ende aber
stellt er die letzte Frage
und keine Antwort mehr

Gott ist also kein Lösungswort, sondern das letzte Wort vor dem Ver­stum­men. Wenn man „Gott“ gesagt hat, dann kann man nichts mehr hinzufügen. Wir haben mit dem Wort „Gott“ schon die letzte und höchste Möglichkeit des Sprechbaren überschritten. Jetzt bleibt nur noch das Schweigen und vielleicht die Anbetung.

Wie können wir dann von Gott reden? Heinrich Böll schrieb einmal: „Ich habe den Eindruck, dass die Theologie viel Sprache verbraucht und nicht viel sagt. […] Sie ist ungeheuer wortreich und ausschweifend. Wenn sie formelhaft würde, auch im Sinne von […] Poesie, könnte sie sich viel­leicht […] eher mitteilen“ (zit. nach Stock 2010, 59).

Vielleicht also die Dichtung. Denn Dichtung ist keine exakte Sprache, wie etwa die Sprache der Verwaltung oder der Technik. Dichtung arbei­tet mit der Vielschichtigkeit unserer Worte. Sie ruft Assoziationen auf, lässt Bilder entstehen, öffnet Räume, in denen jede und jeder seine ei­genen Erfahrungen aufrufen kann (vgl. Garhammer 2011, 17). Der Sinn für die poetische Sprache ist uns allerdings oft abhandengekom­men. Unsere gewöhnlichen Sprachwelten sind vom technischen Denken oder von den Kategorien der Verwaltung geprägt. Es geht um Exaktheit und um Information. Leider gibt es auch in der Kirche die Versuchung, die religiöse Sprache am Informationsmodell zu orientieren. Wenn etwa im Katechismus Gott und seine Eigenschaften wie in einem Lexikonarti­kel erklärt werden. In Sachen Religion gibt es aber keine Informationen, denn Gott ist ja kein Sachverhalt, über den das Wort „Gott“ uns infor­mie­ren würde. Gott ist ein Wirkwort: Die Nennung seines Namens will uns nicht informieren, sondern erschüttern, beglücken, bekehren. Das Wort „Gott“ ist ein sakramentales Wort, das nicht etwas erklären, son­dern bewirken will. Religiöse Worte sind nicht informativ, son­dern per­formativ. Es sind Wandlungsworte, die nicht nur Brot und Wein, sondern vor allem uns wandeln wollen. Stellen sie sich einen Liebenden vor, der auf die Frage seiner Frau: „Schatz, liebst du mich?“, antwortet: „Aber ja, du weißt es doch. Ich habe es dir letztes Jahr schon gesagt.“ Dieser Mann hat die Frage seiner Frau nicht verstanden. Sie wollte keine sach­lich-küh­­le Information, sondern ein heißes Bekenntnis. Wenn unsere religiösen Worte uns nicht wandeln und verändern, dann sind sie sinnlos.

Wie finden wir zu Gott? Müssen wir den Himmel stürmen? Viele religiö­se Bilder deuten nach oben. So auch das Bild der Jakobsleiter: eine Lei­ter, die von der Erde bis zum Himmel reicht. Vielleicht aber müssen wir gar nicht nach oben steigen.

Jakobsleiter

nur geträumt
die sprossen
hoch ins blau

steige lieber
die steinigen stufen hinab
in die lichtscheue
deiner katakomben

und wenn du
ganz zu grunde
gegangen bist
erwartet dich dort
der engel

Von Søren Kierkegaard wird der Satz überliefert: „Wenn ich nicht zu Grund gegangen wäre, dann wäre ich zugrunde gegangen.“ Ich muss also in meinen eigenen tiefsten Grund hinabsteigen, um nicht zugrunde zu gehen.

4. Jesus als das Wort Gottes für uns

Wir ringen oft um Worte, um uns selbst ins Wort zu bringen. Je wichti­ger uns das ist, was wir sagen wollen, desto mehr fehlen uns die Worte. Die zentralen Erfahrungen unseres Lebens können wir mit Worten nie ganz angemessen ausdrücken. Nur von Gott können wir sagen, dass er der Logos ist. Er braucht nur EIN Wort, um sich selbst ganz zum Aus­druck zu bringen. Gott ist unbegreiflich, so haben die Kirchenväter im­mer wieder betont. Aber zugleich gilt, was Leo der Große auf die geniale Formel gebracht hat: „Gott ist unbegreif­lich, aber er wollte sich begreif­lich machen.“

Der Logos Gottes ist Wort geworden, damit wir das göttliche Wort hören können. Für mich als Christ ist das göttliche Wort in Jesus von Nazaret Fleisch geworden. Gott macht sich kommunikabel. Das Wort Gottes wohnt mitten unter uns. Und wir können es empfangen, hören, ihm antworten.

Ein weihnachtliches Gedicht:

krippe

im gedroschenen stroh
des leeren geredes
kein körnchen wahrheit mehr

täglich wächst der hunger
dass ein wort geboren werde
nahrhaft wie ein weizenkorn

Der unbegreifliche Gott macht sich in Jesus Christus angreifbar, bis zur letzten Konsequenz. Dass das Wort nämlich mundtot gemacht wird. Doch als Christ darf ich hoffen, dass derjenige, der das erste Wort hat, nämlich das Wort der Schöpfung, auch das letzte Wort haben wird. Im Anfang stand das Wort: Du sollst sein! Und: Es ist gut, dass du da bist. Und am Ende erhoffe ich ein letztes Wort, das unserem Leben einen letzten Sinn schenkt, eine Erfüllung, die bleibt.

Ostern

im anfang
war der tod
und der tod war alles
und alles war tot

doch dann das wort
liebeserklärung an das leben
und die tote materie
ist fleisch geworden

der tod aber
sitzt tief
und untergräbt
das leben

wenn ER aber
das wort ist
dann hält er wort
behält das letzte wort

Im Anfang war das Wort. Ganz am Ende aber zählen nicht mehr die Wor­te. Nur die Liebe bleibt. So sagt es Johannes vom Kreuz: „ Am Abend deines Lebens wird man nur deine Liebe prüfen.“ Die Frage nach der Liebe ist auch die letzte Frage, die Jesus im Johannes-Evangelium stellt. Petrus hat Jesus an einem Kohlenfeuer dreimal verraten. Und jetzt, nach der Auferstehung, fragt Jesus – wieder an einem Kohlenfeuer – dreimal: „Simon, liebst du mich?“

Die Frage nach der Liebe

dreimal fragst du mich
das schmerzt
warum fragst du immer wieder
du weißt es doch

oder willst du es einfach hören
immer wieder hören
fragst du damit ich es nie vergesse
und immer neu sagen lerne

ja dann frage mich
frag immer wieder
frag immer neu
ach höre nie auf zu fragen