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In Zukunft leiten

Analyse neuer Leitungsmodelle in pastoralen Räumen

Wie entwickelt sich Leitung in neuen und vor allem größeren pastoralen Räumen? Die vorliegende Studie richtet zur Beantwortung dieser Frage den Blick auf die (v. a. hauptamtlichen) Mitarbeiterinnen und Mitarbei­ter; konkret wurden im Bistum Würzburg „in den Jahren 2018 und 2019 etwa 35 leitfadengestützte Interviews […] in fünf zukünftigen pastora­len Räumen durchgeführt. Befragt wurden in jedem pastoralen Raum alle Mitglieder des jeweiligen Leitungsteams, weitere pastorale oder andere hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Verwaltungs­angestellte, Verwaltungsleitungen sowie Ehrenamtliche“ (23).

Unter diesem fokussierten Blickwinkel nimmt die Studie Strukturen und Formen von Führung und Leitung auf systemischer, interperso­neller und personaler Ebene unter die Lupe, schaut also auf die Rah­menbedingungen ebenso wie auf die individuelle Situation der Mit­arbeitenden – und insbesondere auf Arbeit und Leitung im Team.

Denn „[i]nsbesondere durch die Einbeziehung von weiteren Seelsorge­rinnen und Seelsorgern in die Leitung der pastoralen Räume entstehen neue Leitungs- und Führungsinstanzen und somit ein neuartiges Macht- und Einflussgefüge“ (18), das die Studie ausleuchtet. Unterhalb und jenseits kirchenrechtlicher Regelungen haben sich mittlerweile institutionalisierte Formen herausgebildet, wie angesichts der Größe der pastoralen Einheiten und der begrenzten Personalressourcen Leitung und Seelsorge gestaltet werden. Die Studie identifiziert dabei zwei Grundtypen (35–38):

  • zum einen das „CEO-Modell“: Alles im pastoralen Raum läuft beim Pfarrer (ggf. unterstützt durch eine Verwaltungsleitung) zusammen, der für Einheit und übergeordnete Leitung steht. „Seelsorgliche Fra­gen werden mit allen pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in fest terminierten Sitzungen auf Augenhöhe beraten“ (36).
  • Beim „Leitungsteam-Modell“ entwerfen SeelsorgerInnen (LaiInnen und Ordinierte), die für die einzelnen Pfarreien des pastoralen Raums stehen, „gemeinsam die Strategie und die Agenda für den gesamten Raum und implementieren diese in den beteiligten Orten“ (37).

Wie der Auswertungsbericht konstatiert, „zeichnet sich keines der bei­den Modelle durch eine strukturelle Überlegenheit aus“ (38). Auf jeden Fall ist ein streng hierarchisches Denken obsolet in den untersuchten Räumen und es wird gemeinsam nach praktikablen Formen der Zusam­menarbeit gesucht. Eine Stärke der Studie und ihres Designs ist es, wie die dafür nötigen Aushandlungsprozesse herausgearbeitet werden. Da geht es um Kompetenzfragen sowie Kommunikations- und Abstim­mungsprozesse ebenso wie um eine weitere „Grundsatzentscheidung“: Werden die Mitarbeitenden entsprechend ihrer Fähigkeiten und Auf­gaben pfarreiübergreifend tätig oder verteilt man die Zuständigkeiten doch territorial, so dass jede vormals eigenständige Pfarrei weiterhin eine hauptamtliche Ansprechperson hat? Beides hat seine Vor- und Nachteile, weshalb einer der untersuchten Räume auch eine Mischform aufweist (52); sicherlich spielen hier auch sozialstrukturelle Gegeben­heiten – z. B. das „Dorf-Kollektiv“ (30) vs. individualisiertere Religiosität – eine Rolle. Allerdings gibt der Auswertungsbericht zum Schluss doch zu bedenken: „In denjenigen untersuchten pastoralen Räumen, die das Denken in geographischen Größen überwinden möchten, deutet sich insgesamt eine grundlegende Veränderung im Rollen- und damit auch im Selbstverständnis der hauptamtlichen Akteure an. […] Sie sehen ihre Aufgabe nicht in der Repräsentation oder Symbolisierung der Kirche vor Ort, sondern in der Befähigung der Menschen vor Ort, selber Kirche und Gemeinde vor Ort zu sein“ (145 f.).

In ähnlicher Weise ist die Frage nach der Einführung einer Verwaltungs­leitung mit grundlegenden Fragen verbunden – nicht nur, aber auch mit der nach der Bereitschaft, Macht abzugeben (57).

Mit den großen pastoralen Räumen entsteht also eine neue Struktur, die bisher weder ausreichend rechtlich geregelt noch Berufsroutine ist. Viel­mehr müssen sich erst praktische Routinen der Arbeit im Team sowie Regeln und Rollen einspielen. Dadurch, dass diese oftmals nur informell und nicht rechtlich abgesichert sind und auch nicht einem traditionel­len Bild von Pfarrei​(‑Leitung) entsprechen, ergeben sich Unsicherheiten und Unklarheiten: Viele Nicht-Priester wünschen sich eine Sicherung ihrer vereinbarten Spielräume für den Fall eines Pfarrerwechsels (62). Und die Binnen- und Außenwahrnehmung von Leitung kann stark diffe­rieren: Beispielsweise nimmt die Kerngemeinde einer Einzelpfarrei den Priester, der regelmäßig mit ihnen Gottesdienst in ihrer Kirche feiert, eher als Ansprechpartner wahr als die vom Leitungsteam offiziell bestimmte zuständige Person (91).

Trotz vieler Herausforderungen und Probleme scheinen die Befragten aber das Arbeiten im Team in einem großen pastoralen Raum als Ge­winn zu betrachten. „Viele Befragte sehen einen wesentlichen Grund für die Zukunftsfähigkeit teamorientierter Leitungsmodelle in der hetero­genen Zusammensetzung des Teams“ (113): Hier können verschiedene Charismen ineinandergreifen und sich ergänzen. Zudem erweitert sich die eigene Wahrnehmung in Austausch und kollegialer Beratung, auch im gegenseitigen Ringen um gemeinsame Überzeugungen (117). Frei­lich wird von den Interviewten auch betont: Für die Arbeit im Team braucht es auch Personen mit den entsprechenden Eigenschaften und Einstellungen (121–126).

Schön arbeitet der Auswertungsbericht zudem einige hinter den Struk­turfragen stehende pastorale und theologische Grundsatzfragen heraus, etwa: Wollen wir unsere Ressourcen weiterhin darauf verwenden, „le­bendige Gemeinden“ (78) in der Fläche aufrechtzuerhalten? Achten wir mehr auf den Gemeinschaftscharakter von Kirche oder auf den „Dienst am Einzelnen und an seiner Glaubensbeziehung“ (85), nicht nur in der Kasualpastoral? Auch der Übergang von Versorgung hin zu Befä­higung der Gläubigen wird thematisiert (80 f.).

 

Der eben vorgestellte Auswertungsbericht von Peter Frühmorgen, wis­senschaftlicher Assistent am Würzburger Lehrstuhl für Pastoraltheolo­gie, nimmt etwa die Hälfte des Bandes ein. Ihn ergänzen sieben Kom­mentare, also Aufsätze, die Ergebnisse der Studie aufgreifen und mit eigenen Überlegungen weiterführen.

Die Regensburger Professorin für Kirchenrecht Sabine Demel nimmt die Diskrepanz zwischen Kirchenrecht und faktischer Leitungspraxis, die sich im Auswertungsbericht zeigt, als Ansatzpunkt. Sie erinnert zum einen daran: „Ein Leitungsamt in der Kirche beinhaltet […] nicht nur den sozialen Aspekt von Leitung, sondern immer auch den religiös-geistlichen Aspekt, Jesus Christus, das Haupt der Kirche, zu vergegen­wärtigen“ (154); damit hebt sie die Bedeutung des Weihepriestertums hervor. „Andererseits gilt aber auch, dass dieses einheitliche und um­fassende Leitungsamt […] keineswegs All- und Alleinzuständigkeit des jeweiligen Amtsträgers erfordert“ (155). Demel fordert zudem – mit Blick auf das Kirchenbild des 2. Vatikanums –, „die Rechtsbestimmun­gen über die Dienste und Ämter in der Pfarrei ‚laienfreundlicher‘ zu gestalten“ (158). Zukunft sieht sie am ehesten im „Modell des Pastoral­teams mit einer Vielzahl von SeelsorgerInnen unter der Leitung eines Priesterteams, das für mehrere Pfarreien zuständig ist“ (161).

Der Mitherausgeber des Bandes und Würzburger Professor für Pastoral­theologie Johannes Först nimmt Modernisierungsblockaden in der ka­tholischen Kirche und die – teilweise ungewollten – Folgen vom Hängen an Traditionen in den Blick. So führe das starre Festhalten am zölibatä­ren Priester und der damit verbundene Priestermangel in paradoxer Weise dazu, dass sich – notgedrungen – „neue Dienste, Ämter, Leitungs- und Gottesdienstformen“ entwickeln, „die von Männern wie von Frau­en, von studierten, hauptamtlich tätigen Nicht-Priestern genauso wie von Ehrenamtlichen übernommen werden“ (177). Weiterhin verliere das weihegebundene Leitungsamt tendenziell seine pastorale Wirk­macht, da es durch die Beschäftigung mit für es reservierten Leitungs­aufgaben die direkte Begegnung und damit die Beziehung zur „Basis“ verliere. In der Aufgabenorientierung, die in manchen der untersuchten pastoralen Räume praktiziert wird, sieht Först aber einen Gegen­akzent (192).

Jan Loffeld, Professor für praktische Theologie in Utrecht, ortet hinter der Leitungsfrage, die die Studie behandelt, die Frage nach der Passung der „etablierten Strukturen, Plausibilitäten und Kausalitäten“ kirch­lichen Lebens „für diese Zeit“ (196), die nicht mehr gegeben sei. Dabei diagnostiziert er u. a. eine Tendenz zu einer „sozialförmige[n] Antwort auf gegenwärtige Herausforderungen“ (206), also der Befassung etwa mit Strukturfragen, hinter der Theologie und Spiritualität zurücktreten. Weiterhin benennt er die Gefahr einer Milieuverengung, wenn man sich zu sehr an denen orientiert, „die (noch) da sind“ (209).

Peter Frühmorgen vertieft den bereits im Auswertungsbericht vorhan­denen starken Fokus auf Strukturen und Routinen unter Rückgriff auf die Strukturationstheorie Anthony Giddens und schaut von dort her auf die Innovativität der neuen Leitungsformen in den pastoralen Räumen. Die Leitung im Team sieht er aber nur als „‚Reparaturinnovation‘, als Nachjustierung in einem bestehenden System“ (231). Und: „Insgesamt verbleibt den Verantwortlichen vor Ort angesichts starker formaler Regelungen in den Bereichen der Außendarstellung (insbesondere in der Liturgie), der kodifizierten Normen sowie der Finanz- und Personal­verwaltung nur die Möglichkeit, auf informeller Ebene Veränderungen herbeizuführen“ (236).

Die Linzer Assistenz-Professorin für Pastoraltheologie Judith Klaiber „konfrontiert“ die Würzburger Studie mit einer eigenen „pastoraltheo­logischen Studie mit nicht-kirchlichen Führungskräften aus dem öster­reichischen Top-Management unter dem Fokus ‚Macht. Führung. Sinn?‘“ (240). Der Aufsatz ist teilweise ein Anreißen von Literatur und Themen der Führungsforschung, teilweise ein Nebeneinanderstellen von Befunden aus beiden Studien. Eine der Anregungen daraus ist, einmal zu untersuchen, wie prägend sich eigene frühere Erfahrungen als selbst geführte Personen auswirken, wenn man nun selbst (pasto­rale) Leitungsfunktionen ausübt (256).

Eine kurze organisationspsychologische Überlegung steuert Johannes Schaller, Präsident der SRH Hochschule für Gesundheit in Gera, bei. Er vermisst im Auswertungsbericht die Perspektive der „Kunden“. „Wenn die Ausrichtung an ein externes Ziel, wie z.B. die Kundenzufriedenheit fehlt, dann […] besteht innerhalb von Gruppen die Gefahr, sich mit sich selbst zu beschäftigen, die eigenen Strukturen, Rollen, Abläufe in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen – und dabei die Außen­orien­tierung zu verlieren“ (267). Damit bescheinigt er der Studie von ihrer Anlage her zumindest Ergänzungsbedürftigkeit.

Schön ist, dass ein Beitrag des wissenschaftlichen Nachwuchses die Studie abrundet: Marie-Christin Herzog und Magdalena Hürten, Stu­dentin bzw. wissenschaftliche Mitarbeiterin, haben am Forschungs­projekt mitgearbeitet. In ihrem Aufsatz gehen sie „ausgewählten Fragen bezüglich der Rollenveränderungen der hauptamtlichen Laien“ (272) nach und vertiefen damit einige Aspekte der Studie, etwa das Schwin­den der klassischen Seelsorgerolle oder die Begleitung von Ehrenamt­lichen. Wichtig ist sicher der Hinweis, dass trotz der in den Interviews berichteten Bedeutung der Teamarbeit damit Unterschiedliches ver­standen wird, wobei „Team“ nicht unbedingt mit Gleichberechtigung verbunden sein muss (280).

 

Die Studie trägt durch ihren nüchternen Blick auf die (De-facto‑)​Praxis sicherlich zur empirischen Erdung pastoraler Umstrukturierungspro­zesse bei, wie sie derzeit in allen Bistümern ablaufen. Sie identifiziert und beleuchtet pastorale Grundentscheidungen, die in großen pasto­ralen Räumen anzugehen sind, und erläutert die Bedingungen, unter denen sie ablaufen.

Wie der Aufsatz von Johannes Schaller deutlich macht, fokussiert die Studie dabei deutlich, indem insbesondere Hauptamtliche mit ihrer Sichtweise in den Blick kommen. Eine solche Konzentration ist legitim – sie kann ja immer noch durch weitere Studien ergänzt werden. Den­noch: Scheint dem Rezensenten die Perspektive der Ehrenamtlichen, von denen ja einige befragt wurden, schon etwas schwach vertreten zu sein, so kann er sich erst recht nicht des Eindrucks erwehren, dass die Hauptamtlichen ziemlich stark als die „Macher“ in den Pfarreien er­scheinen, die ihr Programm planen und durchführen. Auch wenn die wachsende Bedeutung der Ehrenamtlichen erkannt ist (117–121), auch wenn der Eindruck vielleicht dem Studiendesign geschuldet ist, auch wenn sich hier die pastorale Realität widerspiegeln mag: Vielleicht liegt hier auch eine Problemanzeige verborgen.

Insgesamt zeigt die Studie sehr schön auf, wie sich – trotz struktureller Hindernisse – Stück für Stück und gerade im informellen Bereich die pastoralen Berufs- und Leitungsrollen wandeln. Ob sich hier – ange­sichts massiver Abbrüche beim hauptamtlichen Personal in den nächsten Jahrzehnten – bereits Ansätze einer langfristigen Zukunfts­fähigkeit entwickeln, bleibt aber die große Frage, die die Studie weder beantworten will noch kann.

Martin Hochholzer