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Für alle, weil für wenige?

Reflexionen über pastorale Stellvertretung und Ent-Netzung

Angesichts der Erfahrung von Minderheit kirchlicher Präsenz lenkt Loffeld die Aufmerksamkeit von dem aktiv Verbundenen auf das „Entnetzte“ (Urs Stäheli), das in den Großtrends der Säkularität und religiösen Indifferenz eine eigene Beziehung zum partikular Kirchlichen darstellt. Es geht nicht um die trennscharf-profilierende Abgrenzung eines kleiner gewordenen elitären Kreises, sondern um eine angenommene und inklusiv gestaltete kirchliche Minderheitensituation, die den Gedanken der Stellvertretung in ihre Sen­dung einträgt. Nicht alles muss christlich werden, aber das Christliche kann mit wenigen überall präsent sein.

1) Die Erfahrung von Minderheit wird konkret(er)

Einmal ist immer das erste Mal – und hinterlässt einen besonderen Eindruck. So geschehen am 4. Fastensonntag 2021 in einer niederrheini­schen Dorfkirche. Alles war vorbereitet und alle, die auf den entspre­chenden Dienstplänen standen, waren da: Küsterin, Organist und Lek­torin, vier Messdiener:innen, die Kirche auf 16 Grad erwärmt. Doch nach dem Einzug war deutlich: Zwei Mitfeiernde waren gekommen. Allen stand ein gewisser Schock ins Gesicht geschrieben, denn: „So wenige waren noch nie da“, sagte die Küsterin nachher. Eine mittel­große Dorfkirche mit ca. 200 Sitzplätzen ist zu einem Prozent gefüllt. Allerdings war der Kirchbesuch schon „vor Corona“ in diesem Dorf eher spärlich. Ganz kurz erwischte ich mich bei dem Gedanken, ob wir denn wirklich eucharistiefähig seien, denn die Diskussion um Streaming­messen und priesterliche „Selbstzelebration“ vor wenigen Mitfeiern­den war noch nicht so lange her. Sogleich schoss mir das Wort Jesu: „Wo zwei oder drei …“ durch den Kopf und ich versuchte innerlich, weitere Gründe für die Tatsache zu finden, dass wir die Messfeier nicht abbre­chen. In der Einleitung erinnerte ich dann an den Friedhof, der um die Kirche liegt, und versuchte zugleich anzuregen, dass wir jetzt während der Messe an einen oder mehrere Menschen denken können. Diese Konstruktion oder besser noch das Erinnern an eine durch die Zeiten gehende Communio der Lebenden und Toten sollte es schließlich allen gut möglich machen, den Gottesdient doch noch in Gemeinschaft zu feiern. Oder, um es mit einem Bild Martin Luthers zu sagen: die sicht­bare Kirche durch die unsichtbare zu ergänzen.

Diese Szene ist in Erinnerung geblieben. Beim Gespräch mit jungen Priesterkandidaten oder anderen Theologiestudierenden, die einen kirchlichen Beruf anzielen, kommt sie mir immer wieder ins Gedächt­nis. Werden die jungen Leute künftig öfter solche Szenen erleben, ja, werden sie zur kirchlichen Alltäglichkeit? Oder werden andere Formen und Orte entstehen, an denen jenseits einer Wohnortbindung und nicht mehr erfasst von der Territorialstruktur Gemeinschaften – womöglich auf Zeit – die neue Art von Kirche sind? Etwa in Hauskirchen, bei Ordens- oder Diözesanzentren, an Orten gelebter Caritas.

Dass der nachkonziliar gerade im deutschen Sprachraum auf die Ge­meinde hin enggeführte Kirchenbegriff der Ergänzung um weitere Orte und Gelegenheiten bedarf, ist mittlerweile ein Gemeinplatz in Pastoral­theologie und kirchlicher Innovationsszene. Das Stellvertretungs- und damit auch das Minderheitenthema kommt allerdings erst nach und nach auf. Lange dachte man, durch konzeptkreative Innovationen die Säkularisierung stoppen zu können, und beantwortete die religiöse Relevanzfrage vor allem mithilfe einer Arbeit an kirchlichen Sozial­formen. Immer öfter allerdings lässt sich das leise Eingeständnis ver­nehmen, dass die Minderheitensituation mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Zukunft des Christentums nicht nur in Ost-, sondern auch in Westeuropa beschreiben wird. Auch von kirchenoffi­zieller Seite wird dies inzwischen zur Kenntnis genommen, wenn etwa das Protokoll der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonfe­renz 2020 genau dieses Zukunftsszenario als sehr wahrscheinlich be­nennt. Die Gründe dafür sind sicherlich vielfältig, umstritten bzw. divers und je unterschiedlich zu gewichten. Dies zu erörtern ist hier nicht der Ort. Vielmehr soll im Folgenden ein aktuelles Theorieangebot zur sogenannten „entnetzten Gesellschaft“ auf Potentiale hin ange­schaut werden, die diese Situation deuten helfen. Anschließend werden Perspektiven für eine Kirche entwickelt, die sich neu in der Spannung zwischen ihrem Selbstbild einer universalen Sendung und der Realität einer ihr ins Haus stehenden Minderheitensituation verorten muss. Dies kann womöglich über die Metapher oder besser: die Haltung und das aktive Bewusstsein von geistlicher bzw. pastoraler Stellvertretung geschehen.

2) Neu in der pastoralen Logik: Ent-Netzung zu denken wagen

In den vergangenen Jahren wurden in der pastoralen Theorie und Praxis immer stärker Theorien des Netzwerks, der Vernetzung und veränder­ten Teilhabe und -gabe rezipiert, die diese anderen Sozialformen mög­lich machen. Das war und ist weiterhin mehr als naheliegend. Denn die strukturellen Umbauten der pastoralen Landschaft scheinen an kein Ende zu kommen: Zu sehr nagen die oben angedeuteten Prozesse lebensweltlicher Verschiebungen, kirchlicher Glaubwürdigkeitsverluste und einer scheinbar unaufhaltbaren Säkularisierung bereits seit Jahr­zehnten an kirchlich etablierten Selbstverständlichkeiten. In diesen Kontexten bieten Rezeptionen etwa der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour oder der Anschlussfähigkeiten sozialer Systeme bei Niklas Luhmann wichtige Inspirationsquellen. Ganz zu schweigen von Netz­werkkonzeptionen aus dem Bereich digitaler Theorie und Praxis.

Der Optimismus bzw. die Euphorie solcher Rezeption wird allerdings zeitgleich durch mindestens zwei Realitäten gedämpft: Einmal durch eine gewisse pastorale Strukturmüdigkeit. Verantwortliche im Haupt- und Ehrenamt scheinen immer weniger bereit, sich binnen kurzer Zeit wieder auf eine neue Struktur bzw. ein neues Paradigma sozialer Verge­meinschaftung einzulassen. Andererseits reflektiert mittlerweile der soziologische Diskurs selbst die Nicht-Anschlussfähigkeit als soziales Phänomen und entwickelt sogar eine „Soziologie der Entnetzung“. Der Hamburger Soziologe Urs Stäheli hat seine früheren Arbeiten zu diesem Thema im Frühjahr 2021 gebündelt und als einen eigenen Band heraus­gebracht. Hierin analysiert er unter anderem ein „erschöpfendes Netz­werken“ (Stäheli 2021, 38) und macht damit eine bemerkenswerte Parallele zu den oben angedeuteten pastoralen Diskursen auf. Stäheli äußert jedoch durchaus Verständnis dafür, dass Entnetzung auch innerhalb der Soziologie erst spät entdeckt bzw. reflektiert wird: „Das Anschlusslose scheint auf nichtkommunikative und daher schwierig zu erfassende Weise weiterzubestehen und dadurch möglicherweise später zur Reflexion der Anschlusslosigkeit anzuregen“ (ebd. 125).

Innerhalb sehr vieler durch das Vernetzungsdenken und auf immer neue Anschlussmöglichkeiten hin orientierter soziologischer Groß­theorien analysiert Stäheli eine vorwiegend „relationale Auffassung des Sozialen“ (ebd. 202). Hier wird „konsequenterweise […] das, was jen­seits der relational konstituierten Einheiten liegt, undenkbar und ana­lytisch irrelevant“ (ebd. 203). Zugleich ist dem Entnetzten eine spezi­fische Dynamik eigen, die nicht unterschätzt werden sollte: „Auch wenn das Entnetzte den etablierten Existenzkriterien eines Netzwerks also nicht mehr genügt, so produziert es durch seine seltsame Form der Anwesenheit dennoch Effekte, die sich häufig eher als Stimmungen, Ahnungen oder diffuses Unbehagen denn als explizites Wissen äußern“ (ebd. 210). Dies kennen kirchliche Insider zur Genüge. Vielleicht ist sogar der mitunter rauer werdende innerkirchliche Ton einer der greif­barsten Effekte einer solchen faktischen Entnetzung nach außen, der man sich allenthalben ohnmächtig ausgeliefert sieht. Die populärste bzw. bekannteste Form solcher Entnetzung, die deren ganze Viel­schichtigkeit – um nicht zu sagen Ambivalenz – zeigt, markiert das Burnout-Syndrom, bei dem Körper und Geist beinahe mittels eines natürlichen Entkoppelungs­prozesses sich zumindest zeitweise ent­koppeln. Auch solche Prozesse kirchlicher Erschöpfung stehen pastoral zumindest im deutschen Sprachraum zu befürchten bzw. sind bereits sichtbar. Ein anderes Phänomen ist die Bildung von argumentativ zumeist resistenten bzw. binnendiskursiven Filterblasen. Auch hiervon gibt es innerhalb der Kirche einige, ja, das gesamte katholische Leben im deutschsprachigen Raum scheint samt seinen vielfältigen internen Dis­kussionen in immer auffallender Weise von sonstigen gesellschaft­lichen Debatten entnetzt.

Auf unsere Fragestellung kann hin kann ein Ernstnehmen der „Soziolo­gie der Entnetzung“ bedeuten: Eine Pastoralsoziologie und -theologie, die sich vorwiegend auf die aktiv Verbundenen richtet, ja eigentlich nur diese wahrnimmt, befindet sich zunächst in guter Gesellschaft mit den gängigen, vorwiegend relational aufgestellten soziologischen Großtheo­rien. Kirchlich sieht man sich allerdings auch in den eigenen Reihen schon seit Jahrzehnten mit diversen Prozessen bewusster und passiver bzw. gegebener Abschottung sowie natürlicher Unverbundenheit kon­frontiert. Parallel dazu stellt sich auch im gesellschaftlichen wie im politischen Bereich die ernste Herausforderung, „die Heterogenität des Entnetzten ernst zu nehmen“ (ebd. 210). Dies schlägt die Brücke zu vielfäl­tigen Phänomenen unbeteiligter Sozialität, wie man sie mit dem Begriff der „Indifferenz“ zu beschreiben versucht. Sie meint im politi­schen wie auch im religiösen Bereich die „Fähigkeit, sich nicht zu verbinden und dennoch präsent zu sein“ (ebd. 224), und sollte, wie Stäheli festhält, „nicht automatisch als widerständige Praxis in der Netzwerkgesellschaft be­trachtet werden“ (ebd. 225). Es gibt in der Kirche – vermutlich noch mehr als in der Politik – neben dem enga­gierten Milieu eine schweigende, letzt­lich unverbundene Präsenz derer, die sich sowohl im Positiven wie im Negativen einfach nicht (mehr) interessieren. Diese Gruppe macht zumindest in der Kirche die Mehrheit aus.

Diese wenigen Striche können zeigen, dass sich mit dem Denken von Entnetzungen ein zukunftsträchtiges Reflexionsfeld gerade für Theo­loginnen und Theologen auftut. Denn letztlich gehen die großen theologischen Paradigmen bzw. Wissensformen ebenso wie jene der Soziologie von stets neuen und immer möglichen Anschlussfähigkeiten der Entnetzungen aus – man denke hier etwa an korrelative Ansätze in der Folge von Paul Tillich oder an die breite Rezeption hermeneutischer Methodik, die sich mit dem Namen Hans-Georg Gadamer verbindet. Allerdings haben die Religionsgemeinschaften (eben auch diejenigen mit einer weniger hohen „Kirchenproblematik“ als die katholische) mittels deren Rezeption offenbar keine Lösung für den entnetzenden Großtrend, als den man die Säkularisierung beschreiben könnte, ge­funden. In diesem Zusammenhang wird nun das Motiv der theologi­schen bzw. geistlichen Stellvertretung attraktiv und aktuell. Denn es denkt Verbundenheit und Verbindung bei oder besser: trotz faktischer Nichtverbindung und Indifferenz. Allein vor diesem hier lediglich sehr knapp aufgezeigten soziologischen Problemhorizont zeigt sich, wie hilfreich ein Nachdenken über solche klassischen Denkfiguren des geistlichen Lebens bzw. theologischen Denkens sein kann. Es ist buch­stäblich an der Zeit und wird es vermutlich bleiben. Dies soll im Fol­genden nun ansatzweise geschehen.

3) Stellvertretung in der Urkirche und auf dem II. Vatikanum

Der verstorbene Würzburger Patristiker Franz Dünzl (1960–2018) hat in seiner letzten großen Monografie unter dem Titel „Fremd in dieser Welt?“ (2015) das Innen-außen-Verhältnis des antiken Christentums analysiert. Er kommt dabei zu einer bemerkenswerten Schlussfolge­rung: Je mehr die konstantinische Wende naht, also je größer die Ge­meinschaft der Christinnen und Christen wird, desto inklusiver, sprich weltoffener stellt sich die junge Kirche auf. Von einer sehr auf Abgren­zung bedachten Urkirche der ersten beiden Jahrhunderte unter Verfol­gung und anderen Einflüssen wird sie im Laufe der Zeit eine auch für die politischen Herrscher nicht mehr zu vernachlässigende Größe. Bei nähe­rem Nachdenken könnte diese Analyse für heute den Schluss nahelegen, dass, je kleiner die Christengemeinde inmitten säkularer und multireli­giöser Mehrheitsgesellschaften werden wird, sie sich umso exklusiver verstehen könnte. Eben so, wie es bestimmte Ansätze, die derzeit aus einem traditionalen Kirchenmilieu heraus von einer „kreativen Minder­heit“ sprechen, auch beabsichtigen: eine kleine, glaubensstarke, auf eine randscharfe Innen/Außen-Identität bedachte Gruppe, die gerade durch ihre Kontrastierung bzw. Exklusivität eine neue Attraktivität er­langen möchte. Demgegenüber stehen andere Perspektiven, die zwar die Minderheitensituation realistisch einschätzen, diese allerdings inklusiv, das heißt durch einen positiven Zugang zu ihrer Umwelt konturiert sehen wollen. Gerade für letzte Vision könnte das Motiv der Stellvertretung Wesentliches zum eigenen Selbstbild austragen. Denn es ist – interessanterweise – eines, das bereits in den 1960er Jahren und damit inmitten einer seinerzeit in Europa unbestrittenen Mehrheits­position durch das II. Vatikanum angedacht wurde. An prominenter Stelle der Kirchenkonstitution Lumen gentium, dort, wo es um die Qua­lifikation der Kirche als messianisches Gottesvolk geht, heißt es: „So ist denn dieses messianische Volk, obwohl es tatsächlich nicht alle Men­schen umfasst und gar oft als kleine Herde erscheint, für das ganze Menschengeschlecht die unzerstörbare Keimzelle der Einheit, der Hoffnung und des Heils“ (LG 9).

Auch eine Kirche in der Minderheit hat einen Auftrag und eine Sendung für das Ganze. Dies verbindet inmitten und trotz aller Unverbunden­heit. Es zeigt sich hier, gerade angesichts vielfältiger Realitäten von gesellschaftlichen Unverbundenheiten, eine interessante Parallele zwischen der Vision des Konzils und jenem oben bereits erwähnten Selbstbild der Kirche am Ende der vorkonstantinischen Zeit, diesmal beschrieben durch den Historiker Christoph Markschies: „Wenn sie [die Christen an der Wende vom dritten zum vierten Jahrhundert; J. L.] in die Zukunft schauten, konnten sie sich noch nicht vorstellen, dass das Christentum zu einer Mehrheitsreligion werden könnte. Zwar hatten sie von jeher behauptet, dass das Christentum eine ‚universelle‘ Religion sei, aber mit universell meinten sie, dass jeder überall Christ werden konnte. Sie waren stolz darauf, dass man inzwischen überall Christen finden konnte. Das bedeutete jedoch nicht, dass sie tatsächlich erwar­teten, dass jeder überall Christ werden würde. Oder in Claire Sontinels Worten: Die Christen dieser Zeit konnten sich ein Christentum vorstel­len, das in allen Teilen eines [gesellschaftlichen; J. L.] Universums an­wesend war, aber kein soziales Universum, das ausschließlich christlich war. Diese Vorstellung kam erst später. Aber sie kam“ (Markschies 2006, 60).

Dieses Motiv, dass nicht alle Christ:innen werden müssen, sondern überall Christ:innen antreffbar sein sollten, könnte eine passende Ver­schiebung für künftige pastorale Zielbeschreibungen angeben. Wenn Entnetzung zur theologisch und pastoral unbestreitbaren, ja immer dominanteren Realität wird, braucht es neue Bilder, die dem entspre­chen, indem eigene Möglichkeiten inmitten sich verändernder Kontexte realistisch eingeschätzt werden.

Diese beiden kurzen Textfragmente können anzeigen, wie der Gedanke der ekklesiologischen Stellvertretung gerade in seiner pastoralen Rele­vanz an unterschiedlichen Stellen innerhalb der katholischen Tradition vorhanden ist und dass es reizvoll sein kann, diesen zu heben. Aller­dings sollte man dabei den inklusiven Grundimpuls der Urkirche ebenso wie jenen des Zweiten Vatikanums als zentral ansehen, gerade um nicht den letztlich anti-katholischen Versuchungen einer elitären Sekte oder wahrheitsgewissen Minderheitsreligion zu erliegen. Hierzu kann der Stellvertretungsgedanke des messianischen Gottesvolkes Wesentliches beitragen: Wenn nämlich das Gottesvolk sich per se als stellvertretend für das Ganze begreift, muss es aus der zugrundeliegenden inneren Haltung der Solidarität heraus einen vorwiegend positiven Zugang zu den es umgebenen Realitäten gewinnen bzw. behalten. Theologisch bedeutet die Rezeption dieser Gedanken nichts Geringeres, als Univer­salität und Partikularität angesichts der Praxis neu auszutarieren. Hier­zu bietet sich sicherlich neben manch anderem der Stellvertretungs­gedanke idealerweise an. Ob man ihn nun vorwiegend liturgisch-fürbittend, soteriologisch oder solidarisch-prophetisch füllt, mag der konkreten Praxis überlassen sein. Wesentlich ist es bis hierher, dieses Konzept als zukunfts- und praxistauglich zu erweisen.

4) Ein pastoraler Impuls: Mithilfe des Stellvertretungsgedankens aus dem üblichen „Wenn-dann“ ausbrechen

„Es ist meine Überzeugung, dass wir als Kirche, gerade hier in Deutsch­land, bei allem, was von uns selbst an notwendiger Aufklärung, Aufar­beitung und Selbstkorrektur gefordert ist, vor einem entscheidenden Lern-Schritt stehen, mit dem wir bislang kaum Erfahrung haben. Es ist der Schritt heraus aus einer Wenn-Dann-Logik, die dem Grundsatz folgt: ‚Wenn wir nur dies oder jenes tun würden, dann ...‘ Das ist in meinen Augen der entscheidende Schritt hinein in die Erfahrung, die Jesus in jenen 40 Tagen in der Wüste gemacht hat. Es ist ein Schritt hin zu einer Haltung, mit der er dann seinen Weg des öffentlichen Wirkens geht“ (Gerber 2021).

Diese Worte des Fuldaer Bischofs Michael Gerber in seinem Fastenhir­tenbrief 2021 können passend zusammenfassen, um was es derzeit geht. Unsere Pastoral und – wie man oben sehen konnte – beinahe die gesamte Sozialtheorie ist auf Wenn-dann-Verbindungen hin angelegt. Sie machen das Nicht-Verbundene, Heterogene oder Indifferente in vielen Erwägungen und Prozessen (vielleicht auch in synodalen?) schlicht nicht wahrnehmbar bzw. denken es vor allem auf neue An­schlüsse und auf die Schaffung entsprechender Optionen hin. Der Ge­danke der Stellvertretung steigt hier aus, indem er die Nicht-Möglich­keit konkreter Anschlüsse (seien sie nun dauer- oder ereignishaft) mitdenkt, ernst nimmt und angesichts dessen letztlich eine neue, ganz andere Verbindungsmöglichkeit praktiziert. Wesentlich wird es sein, dass diese nicht nur nicht exklusivistisch funktioniert, sondern auch alles Elitäre oder Besserwisserische hinter sich lässt, ohne die eigene Identität zu disponieren. Die Logik der Stellvertretung überlässt es allerdings letztlich Gottes Ratschluss, wie sich Verbindungen zum Glauben und zur Glaubensgemeinschaft gestalten. Dies verweist auf eine paradoxale pastorale Situation: Einerseits ist es unzweifelhaft der Auftrag der Kirche zu verkündigen, zu evangelisieren. Allerdings – und dafür kann der Gedanke der Stellvertretung selbst Platzhalter sein – meint eine solche Evangelisierung keineswegs Christianisierung. Das Ziel der Evangelisierung ist es vielmehr, „Gott einen Ort zu sichern“ (M. Delbrêl) und auf diese Weise das Evangelium im Sinne des urchristli­chen Vorbildes an möglichst vielen Stellen antreffbar zu halten: dia­konisch-bezeugend, liturgisch-feiernd und auf viele andere Weisen. Dies meint allerdings nicht, damit eine Christlichmachung im Sinne einer Re-Christianisierung zu verbinden, denn diese lässt Menschen letztlich nicht frei. Weil aber gerade diese Freiheitsoption jede Evangelisierung notwendig durchdringen muss, ist der Gedanke und noch mehr die Haltung der Stellvertretung für die Zukunft des Christentums in Europa so attraktiv. Sie macht es möglich, alle zu meinen, indem man gerade dies mit wenigen tut.