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Lebenslänglich!

Das Ringen von Migrierten und Geflüchteten um gleichberechtigte Partizipation in Gesellschaft und Kirche

Ja, es ist ein blinder Fleck. Natürlich wissen die für die Pastoral Verant­wortlichen, dass es in Deutschland zahlreiche muttersprachliche Ge­meinden etc. gibt. Und doch sind Katholikinnen und Katholiken mit Migrationshintergrund strukturell schwach vertreten in einer Kirche, die eigentlich seit einigen Jahren Partizipation groß schreibt, und bleiben oft außen vor oder gar unsichtbar.

Theologisch betrachtet verschärft sich das Problem weiter: Katholizität meint eben auch, Kirche für alle und mit allen zu sein. Gerade die katholische Kirche als Weltkirche überschreitet die Unterscheidung zwischen „Einheimischen“ und „Fremden“, versteht sich als Gemein­schaft gleichberechtigter Menschen verschiedenster Herkunft – und steht damit in biblischer Tradition.

Und doch erfahren Menschen, dass sie als Migranten und Migrantinnen dauerhaft – „lebenslänglich!“ – nicht ganz dazugehören. Diese Erfah­rung – nicht nur in der katholischen Kirche, sondern auch in der Gesell­schaft insgesamt – ist der Ausgangspunkt des zu besprechenden Bandes.

Er geht auf einen Studientag mit anschließendem Workshop des Insti­tuts für Weltkirche und Mission (IWM) im Oktober 2019 zurück. Wie der Herausgeber, P. Tobias Keßler, bedauert, blieb das Bemühen um Bei­träge von Menschen, die die im Fokus stehende Exklusion selbst er­fah­ren, erfolglos. Die im Band versammelten Artikel zeichnen dennoch ein vielschichtiges Bild und können als Augenöffner dienen.

 

Den Auftakt bildet ein Impulsvortrag des Herausgebers, an den die wei­teren Beiträge teilweise anknüpfen. Keßler macht darin auf machtför­mige Asymmetrien zwischen Etablierten und Zugewanderten aufmerk­sam, die sich zwar im Lauf der Zeit verändern, aber trotzdem häufig bleiben. Er fragt auch nach dem spezifischen Fall der katholischen Zugewanderten, die ja „mit deutschen Katholikinnen und Katholiken zwei Zugehörigkeiten“ teilen: „die Zugehörigkeit zu den Menschen in Deutschland einerseits und die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche andererseits“ (25). Und er gibt u. a. folgende Frage mit auf den Weg: „Kann der christliche Glaube entsprechend der Selbstwahrnehmung vieler Christen tatsächlich als relevante Größe betrachtet werden, die nicht so sehr einer spirituellen Überhöhung per se unschöner Fakten dient, sondern in der Lage ist, die gängigen Diskurse und Narrative so­wie den Entwicklungsverlauf der Beziehung zwischen Etablierten und Außenseitern nachhaltig positiv zu beeinflussen?“ (28).

Darauf kommen die Autorinnen und Autoren zurück. Zuerst jedoch schildern und analysieren sie migrantische Erfahrungen. Am inten­sivsten geschieht das im Beitrag von Drea Fröchtling, der auf Interviews mit sechs Afrikanerinnen und Afrikanern aufbaut, die sich seit 2008 als Sans-Papiers im Schengenraum aufhalten und das Fehlen von Gerech­tigkeit und Sicherheit tagtäglich erleben.

Gerechtigkeit ist eine Problematik, die in den Beiträgen wiederholt thematisiert wird, aber auch Repräsentation. Zudem wird immer wieder auf die Frage der Anerkennung rekurriert. Marianne Heimbach-Steins etwa betont – mit Rückgriff auf Judith Butler – die Abhängigkeit der eigenen Subjektwerdung von der Anerkennung durch den Anderen. Dabei kann es zu Verletzungen kommen, wenn z. B. manche Menschen andere ausschließen oder ihre Angewiesenheit auf andere für die eigene Subjektwerdung negieren.

Konkreter wird die Frage der Anerkennung im Aufsatz von Regina Polak, die freilich den Begriff des Rassismus in den Mittelpunkt stellt. „Da ich als Mitglied der Mehrheitsgesellschaft sowohl gesellschaftlich als auch kirchlich zu den Alteingesessenen gehöre, ist anzunehmen, dass auch ich nicht frei von rassistischen Vorurteilen bin“, schreibt sie in einer Vorbemerkung (132 f.), bevor sie die Allgegenwärtigkeit eines „atmo­sphärischen Rassismus“ (143) darstellt: Menschen begegnen anderen Menschen mit pauschalisierenden Vorurteilen und halten geschriebene und ungeschriebene Normen und Regeln aufrecht, die andere abwerten und ihnen Lebenschancen vorenthalten. „Frei von solchen Einstellun­gen sind selbst Migrantinnen und Migranten nicht. Da sie in einer rassistischen Ordnung leben, ist die Wahrscheinlichkeit, sich mit den Werten und Wertungen der Mehrheit zu identifizieren – nicht zuletzt, um ‚dazuzugehören‘ – durchaus gegeben“ (143).

Polak blickt nun auf die mit diesem Rassismus verbundenen Anerken­nungsdefizite nicht nur in der Gesellschaft insgesamt, sondern auch speziell im Raum der (katholischen) Kirche. „Wie steht es um die Anerkennung von Glaubens- und Kirchenerfahrungen von Migran­tinnen und Migranten in der Kirche?“ (150), ist nur eine von vielen Fragen, die sie den „Einheimischen“ als Spiegel vorhält.

Dabei ist Migration – man denke nur an das Babylonische Exil und die davon befeuerte Theologie – biblisch gesehen eine Art Grunderfahrung des Glaubens. Und mit der Instruktion Erga migrantes von Papst Johan­nes Paul II. lässt sich das „Zusammenleben von Gläubigen mit und ohne Migrationsgeschichte“ als eine „Nagelprobe, ob sie es mit ihrem Glauben ernst meinen“ (161), betrachten.

Dass es hier in Deutschland große persönliche und strukturelle Defizite gibt, kann man von Christiana Idika lernen: Wenn muttersprachliche Gemeinden als Quasipfarreien einer „Einheimischen-Pfarrei“ zuge­ordnet werden, haben sie, „[d]a sie nicht als juristische Personen aner­kannt sind, […] kein Vermögensrecht“ (177). Auch in Bezug auf die Budget­zuweisung ziehen sie den Kürzeren, wenn eingebürgerte Migran­tInnen einer „deutschen“ Pfarrei zuordnet werden, obwohl sie zur muttersprach­lichen Gemeinde gehen. Und wenn sich muttersprach­liche Gemeinden mit einer „deutschen“ Gemeinde Räumlichkeiten teilen, stehen sie bei den Gestaltungsmöglichkeiten oft erst an zweiter Stelle.

 

Was aber lässt sich gegen Ausgrenzung und Benachteiligung tun? Christian Spieß arbeitet in seinem Beitrag heraus, dass zwar auch eine Umverteilung von Gütern, Rechten etc. seine Berechtigung hat, um Ungleichheiten zu bearbeiten. Anerkennung, die die Differenzen wertschätzt, ist jedoch davon zu unterscheiden.

Ein eigenes Thema ist anwaltschaftliches Eintreten für MigrantInnen. Katja Winkler, die mit ihrem Aufsatz auch eine Einführung in postkolo­niales Denken gibt, betont, dass es wichtig ist, dass Menschen für andere ihre Stimme erheben (denen das vielleicht gar nicht selbst möglich ist). Zugleich ist eine solche Repräsentation auch bei besten Absichten problematisch: Sie muss die Vertretenen als Andere, als Fremdgruppe konstruieren (Othering) – obwohl gerade darin das Problem liegt, dass sie als Andere/​Fremde ausgegrenzt sind; sie stellt die Vertretenen nicht aus ihrer eigenen Sicht, sondern im Rahmen der Verstehensmöglichkeiten der Vertretenden dar; sie verhindert womög­lich, dass die Vertretenen selbst am Diskurs teilnehmen.

Doch trotz aller Begrenzungen und Probleme gibt es auch viele positive Beispiele des Einsatzes für (und mit!) MigrantInnen. Zum Abschluss des Bandes berichtet der Würzburger Hochschulpfarrer Burkhard Hose von einigen Erfahrungen ebenso wie Dietrich Gerstner von der christlichen Lebensgemeinschaft „Brot & Rosen“ in Hamburg, die ihren einfachen Lebensstil mit Menschen aus den verschiedensten Lebenssituationen und Ländern teilt. Zudem stellen Johannes Weth und Steve Ogedegbe den „Himmelsfels“ im nordhessischen Spangenberg als einen inter­kulturellen Begegnungs- und Lernort vor.

 

Veränderungen der Strukturen und bei den Einzelnen sind nicht nur gefordert, sondern vollziehen sich auch bereits. Arnd Bünker richtet den Blick auf die „postmigrantische Gesellschaft“, „die sich ihrer teilweise schon lange bestehenden migrantischen Prägung bewusst wird und die darum ringt, wie die bestehende Diversität in ihr Selbstverständnis Ein­gang finden kann“ (187): „Alle paar Jahre wiederkehrende Leitkultur­debatten können demnach als sichere Indikatoren für eine postmigran­tische Gesellschaft angesehen werden“ (188). Postmigrantisch heißt nicht, dass es keine dynamischen Entwicklungen mehr gibt und alle Aushandlungsprozesse bereits abgeschlossen sind – im Gegenteil! Aber das einseitige Denken, dass es einbahnstraßenmäßig darum gehe, sich um die MigrantInnen zu sorgen, sollten wir überwinden.

Das macht auch eine Studie zu christlicher Migration des Schweizeri­schen Pastoralsoziologischen Instituts (SPI) deutlich, die Bünker vor­stellt. So gibt es auch in der Schweiz die migrantischen Gemeinden des „Betreuungstyps“, wo die Integration von (immer neuen) „ersten Ge­nerationen“ im Vordergrund steht. Die Gemeinden des „Abgren­­zungs­typs“ definieren sich jedoch „nicht mehr primär über Migration“. „Sie sehen sich als eigenständige christliche Gemeinden mit eigenem Profil und Auftrag in dem Land (und für das Land), in dem sie existie­ren“ (196). Das geht noch weiter bei Gemeinden des „Missionstyps“, die sich explizit der – teilweise internationalen – Missionsarbeit verschrie­ben haben. Interessant: Typ- und konfessionsübergreifend sieht eine große Mehrheit der Befragten die („einheimische“) Kirche in der Schweiz in der Krise, als zu angepasst an die heutige Gesellschaft und nicht als Vorbild für die eigene Gemeinde an – und erkennt für sich selbst einen „evangelisierenden Auftrag in der Schweiz“ (192).

Dabei muss man sich bewusst machen: Während für Deutschland geschätzt wird, dass ungefähr ein Fünftel der KatholikInnen einen Migrationshintergrund hat, so haben „38% der katholischen Wohn­bevölkerung der Schweiz […] einen Migrationshintergrund, und 25% der katholischen Wohnbevölkerung sind AusländerInnen“ (204).

Was sich also in der Schweiz vielleicht schon deutlicher abzeichnet, gilt auch für Deutschland: Migrantische Elemente gewinnen nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Kirche immer mehr Selbst­bewusstsein und Selbstverständlichkeit – oder sollten das zumindest, denn in vielerlei Hinsicht ist auch noch ein gutes Stück Weg zu gehen zu einer „neuen Normali­tät“ des Miteinanders; die sollte allerdings mög­lichst ausgrenzende Strukturen vermeiden wie in der „alten Norma­lität“, die der zu besprechende Band ja gerade in den Blick nimmt und problematisiert. Dies tut er in vielen Facetten, die hier nur ausschnitts­weise vorgestellt werden konnten, und auch mit einigen Ausschnitten aus dem Graphic Recording der zugrundeliegenden Tagung. Insgesamt ein wichtiges Buch für den Aufbruch zu einer partizipativen Kirche!

Martin Hochholzer