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„Heute ist Beten die größte Wohltat, die man der Welt erweisen kann“ (Madeleine Delbrêl)

Die Frage, ob und in welcher Weise Glaubende für andere, „für die Vielen“ stellvertretend eintreten und beispielsweise beten können, wird von Pastor Stefan Tausch aus der Perspektive der Citypastoral beantwortet. Dabei berichtet er von der Arbeit und geistlichen Grundhaltung im Katholischen Forum Dortmund, einer citypastoralen Einrichtung in Trägerschaft des Erzbistums Paderborn, und von seinen konkreten Erfahrungen damit, wie Menschen reagieren, wenn man ihnen sagt, dass man für sie beten wird.

Geradezu wie in einer programmatischen Präambel heißt es im alten Gotteslob von 1975 unter der Nummer 1: „In der Bibel gehört das Beten ganz selbstverständlich zum Leben, so selbstverständlich, dass es ursprünglich kein eigenes Wort dafür gegeben hat. Beten ist ein Rufen, Jubeln, Klagen, Bitten, Flehen, je nach der Situation des Menschen. Vielleicht sind manche Menschen dieser biblischen Art des Betens sehr nahe, ohne es zu wissen. Wenn sie in eine missliche Lage kommen, fan­gen sie an, sich gegen Gott aufzulehnen; wenn sie eine Zeitung lesen, fragen sie, wie Gott all das Leidvolle und Böse zulassen kann; und wenn sie glücklich sind, dann läuft ihnen das Herz über. […] Der Christ hat nicht nur den Auftrag, für sich selbst zu beten; betend wird er zur Stimme der Kirche in der ganzen Welt. […] Gott braucht mein Gebet nicht, aber mein Leben braucht das Gebet. […] Gebet hat nicht die Absicht, die Welt aktiv zu verändern. Aber seine verwandelnde Kraft verändert den Menschen.“ In dieser Haltung versuchen wir im Katholischen Forum Dortmund, einer citypastoralen Einrichtung in Trägerschaft des Erzbistums Paderborn, das Leben der Menschen in der größten Stadt unserer Erzdiözese zu ‚durchbeten‘.

Dabei lassen wir uns in unterschiedlichen Begegnungsformen von menschlicher Not und Freude berühren. Neben der Vermittlung von Hilfen und Auskünften geht es im Rahmen unserer vielfältigen persön­lichen und digitalen Kontakte bisweilen auch um das Thema Beten. So entwickeln sich nicht wenige Gespräche dahingehend, dass wir vom Hauptamtlichenteam, bestehend aus LaientheologInnen und einem Kleriker, Gebetsbegleitung ins Wort bringen, anbieten oder zusagen. Nachfolgend seien dazu einige konkrete Beispiele ‚aktiver Gebets­zusagen‘ beschrieben.

Homepage: „Ihr Gebetsanliegen“

In der Rubrik ‚Seelsorge und Begleitung‘ laden wir die BesucherInnen unserer Homepage mit folgenden Worten zum Eintragen persönlicher Gebetsanliegen ein: „Ihr Gebetsanliegen: Sie möchten, dass wir für Sie oder in Ihren Anliegen beten? Gerne! Hinterlassen Sie im nachfolgenden Kontaktformular Ihr Gebetsanliegen. Wir nehmen es in unser tägliches Gebet auf.“

Jeden Maileingang bestätigen wir in einer persönlichen Rückmeldung und sagen unsere Gebetsbegleitung zu. Dieses Angebot wird bisher stetig, wenngleich in unregelmäßigen Abständen genutzt – von Menschen in der Nähe oder auch von außerhalb der Stadt lebenden Männern und Frauen.

Mobile Kirchenbank und ForumTaxi: „Wir nehmen Fahrt auf – gratis!“

Inspiriert vom Schriftwort „Steht auf und geht in die Stadt; dort wird euch gesagt werden, was ihr tun sollt!“ (vgl. Apg 9,6) fahren wir bei passender Witterung mit unserer rollenden Kirchenbank und zwei Rikschas in die Stadt. Auf den Straßen und Plätzen begegnen wir mit diesem niederschwelligen Angebot direkt und indirekt, bewusst und unbewusst unzähligen Menschen. Selbstbewusst, aber nicht aufdring­lich wagen wir uns als MissionarInnen in durchaus kirchenfremde, keinesfalls aber gottlose Räume und Straßen. Denn wer der Kirche oder wem die Kirche fremd ist oder fernsteht, muss keinesfalls gottlos sein: „Wirklich, der HERR ist an diesem Ort und ich wusste es nicht“ (Gen 28,16b).

Zweckfrei, aber nicht sinnlos sind wir unterwegs. Ohne Werbeflyer. Durch unser Logo deutlich erkennbar und mit klarem Profil leitet und inspiriert unser Team das Schriftwort „Fürchtet euch nicht vor ihnen und lasst euch nicht erschrecken, heiligt vielmehr in eurem Herzen Christus, den Herrn! Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt“ (1 Petr 3,14 f.). Immer wieder ergeben sich früher oder später völlig unterschiedliche wohlwollende und auch sehr kritische Gesprä­che über Gott und die Welt, weniger bis gar nicht über die Kirche. Dabei kommen wir mit unseren Gästen sehr oft – häufig über vermeintlich banale Aufhänger – mehr oder weniger intensiv über ihre Lebens- und Glaubensgeschichten, über die Fragen, Freuden und Sorgen ihres All­tags ins Gespräch. Nicht selten landen wir bei existentiellen Themen – unabhängig von Religion, Konfession, Parteibuch, Alter, Geschlecht, Beruf, Nationalität … Immer wieder neu entwickelt sich dabei ein kürzerer oder auch längerer Gedankenaustausch. Dabei sind wir stets auch persönlich angefragt, be- und hinterfragt.

Dabei gilt bis heute, was die deutschen Bischöfe im Jahr 2004 anlässlich des Bonifatius-Jubiläumsjahres in ihrem Missionshirtenbrief so zu for­mulieren wussten: „Unsere nichtchristlichen Zeitgenossen erwarten keine frommen Ansprachen. Sie sind der großen Worte müde. Gefragt ist ein glaubwürdiges persönliches Wort von Mensch zu Mensch: Woraus lebe ich? Was lässt mich glauben und hoffen? Warum bin ich Christ, warum bleibe ich es? Dort, wo ein Christ jemanden in sein Leben, in sein Herz schauen lässt, da geschehen auch heute Wunder. Christen, die mitten im Lebensalltag geistliches Profil zeigen – unauf­dringlich, aber erkennbar; selbstbewusst, aber demütig – lassen auch heute aufhorchen. Wir dürfen dem Evangelium unser Gesicht geben.“

Die sehr vielfältigen sowohl angenehmen als auch anstrengenden Ge­spräche auf Kirchenbank und Rikscha münden bei mir häufig in etwa folgende Zusagen ein, die sich – abhängig von Inhalt und Intensität, Person und Gesamtatmosphäre – nach einer gewissen Stufenleiter ‚staffeln‘:

  • Offen und allgemein: „Ich werde eine Kerze für Sie anstecken.“
  • Ein wenig konkreter: „Ich werde an Sie denken.“
  • Direkter und deutlicher: „Ich werde beim Beten an Sie denken.“
  • Immer häufiger auch ganz persönlich: „Ich bete für Sie.“

Nie erfuhr ich in solchen Situationen bisher Ablehnung, sondern eher Staunen, Rührung, Dankbarkeit, auch Verunsicherung – einhergehend mit bewegenden Reaktionen. Insbesondere an die direkt formulierte Gebetszusage schließt sich häufig eine intensivere Fortsetzung des Gesprächs über das Beten und Christsein an.

Umgekehrt höre ich, hören wir auf Rikschas und Kirchenbank nicht selten auch den Wunsch, dass Menschen um unterstützendes und begleitendes Gebet bzw. auch um die Segnung ihrer Person oder eines Gegenstandes bitten.

Fingerkreuz: „Halte mich – ich halte dich!“

Vor einigen Jahren entdeckte ich in einem Devotionaliengeschäft ein sog. ‚Fingerkreuz‘. Einen kleinen Handschmeichler, den ich seitdem in Seelsorge und Pastoral bei unterschiedlichen Anlässen einsetze und verschenke – u. a. auch in der Citypastoral. Dabei zitiere ich bisweilen folgende Gedanken aus dem zum Fingerkreuz gehörenden Informa­tionsblatt: „Das Fingerkreuz ist ein greifbares Zeichen der Hilfe und des Trostes. Nehmen Sie dies Fingerkreuz in die Hand, probieren Sie die richtige Lage aus, legen Sie Ihre Finger um das Kreuz und schließen Sie Ihre Augen. Halten Sie es schweigend oder beim Gebet in der Hand, finden Sie Halt. Geben Sie es jemandem als wortloses Zeichen der Ge­meinschaft und Liebe Christi in die Hand.“ Im Katholischen Forum arbeite ich mit diesem kleinen Holzkreuz bei unterschiedlichen Anläs­sen wie der Spendung des Beicht- oder Taufsakramentes, bei Begleit- und Beratungsgesprächen, bei Trauergesprächen und immer auch in niederschwelligen liturgischen Feiern anlässlich der Wiederaufnahme von ChristInnen in die katholische Kirche. Stets verbunden mit der markanten Einladung: „Halte mich – ich halte dich!“

Dieses kurze, nur fünf Worte umfassende Gebet ist in zweifacher Hinsicht dialogisch zu verstehen:

Wir ChristInnen dürfen uns diese Worte zunächst einmal von Jesus Christus zusagen lassen: „Halte Dich in Deinem Leben an mich, Christus – und zwar in guten und schlechten, in gesunden und kranken, in jungen und alten Tagen! Und wenn Du das tust, werde ich dich halten und tragen. Ja, halte Kontakt zu mir und trage schöne genauso wie schwere Anliegen im Gebet zu mir. Ich werde Dich im Leben und Sterben halten und tragen, ich werde Dich trösten und begleiten. Ja, halte Dich an mich, und ich werde zu Dir halten und Dich stärken und beschützen – zwar nicht VOR Krankheit und Leid, aber IN schweren Zeiten werde ich Dich erhalten, sogar über den Tod hinaus.“

Umgekehrt dürfen wir dieses Wort von uns aus in allen Lebenssituatio­nen an Christus richten und zu ihm rufen und flehen oder auch nur stammeln und stottern: „Halte und erhalte mich – so, wie ich dieses kleine Kreuz fest in meiner Hand halte! Ja, Christus, gib Du mir Rück­halt, wenn ich mit diesem kleinen Kreuz Halt suche bei Dir. Ja, Jesus, wenn nichts und niemand in diesem Leben mehr mich hält, dann halte ich mich an Dich. Darum meine Bitte: Halte mich – ich halte dich!“ Eine für mein Empfinden gelungene und buchstäblich handfeste Konkretisie­rung eines biblischen Pauluswortes: „Das Wort vom Kreuz ist denen, die verloren gehen, Torheit; uns aber, die gerettet werden, ist es Gottes Kraft“ (1 Kor 1,18).

„Betet ohne Unterlass“ (1 Thess 5,17)

„Es ist wahr, man kann heute nicht mehr beten wie früher, es sei denn, man wäre in einem Kloster oder in einer bestimmten außergewöhn­lichen Lebenslage. Doch folgt daraus keineswegs, dass man nicht mehr beten soll; man wird anders beten müssen, und dieses ‚Anders‘ gilt es zu entdecken.“ Die französische Mystikerin Madeleine Delbrêl bringt es angesichts dieser sich wandelnden Umstände auf den Punkt: „Unter den allgemeinen Bedingungen, die die heutige Zeit dem Gebet auferlegt, ist die fühlbarste, die auffälligste, dass Ort und Zeit knapp werden […]“ Im Rahmen unserer Möglichkeiten probieren und entdecken wir dieses ‚Anders-Beten‘ mehr und mehr:

Zum einen feiern wir am Samstagabend in der Dortmunder Propstei­kirche unseren ForumGottesdienst auch in den aktuellen Intentionen. In anonymisierter Form werden die uns aufgetragenen Gebetswünsche innerhalb dieser wöchentlichen Eucharistiefeier in den Fürbitten, im Hochgebet oder auch im Schlusssegen ins Wort gebracht und der ver­sammelten Gemeinde ins Bewusstsein gerufen. Auf diese Weise wächst eine ‚stellvertretende Gebetsgemeinschaft‘ der anwesenden Gottes­dienstgemeinde mit den um Gebetsbegleitung Bittenden.

Außerdem beginnen wir unser wöchentliches Teamgespräch mit einer gemeinsamen stillen fünfminütigen Gebetszeit in den uns anvertrauten Anliegen. Dabei verweist die brennende Kerze in unserer Mitte auf die Gegenwart Gottes und all jener Menschen, die uns ihre Anliegen anver­traut haben.

Darüber hinaus integriere ich die Gebetsanliegen in mein priesterliches Stundengebet.

„Einer sät und ein anderer erntet“ (Joh 4,37)

„Was bringt das? Was bleibt am Ende davon übrig? Kommen dadurch mehr Leute in die Kirche zum Gottesdienst? Engagieren sich dadurch mehr Personen im Katholischen Forum? Oder ist das alles letztlich einzig Aktionismus, Happening und Event? Beten? Stellvertretend für andere beten? Wozu das Ganze? Was soll das?“ Mit Blick auf Sinn und Zweck, Wirksamkeit und Effektivität von Gebetsanliegen, ForumTaxi und Kirchenbank erreichen uns nicht selten solche oder ähnliche Fragen.

Meine Antwort lautet dann etwa wie folgt: „Tatsächlich begegnen wir den Menschen in persönlichen oder digitalen Kontakten und auf Bank und Rikscha in einer Haltung der Offenheit und Freiheit! Wir sind nicht angetrieben von offensivem oder gar aggressivem Missions- und Bekeh­rungseifer. Auch müssen und wollen wir keine so oder so aussehenden Statistiken vorlegen. Deswegen machen wir auch keine Werbung für unsere Gottesdienste und Veranstaltungen. Und konsequenterweise gibt es auch keine Flyer, sondern bei Bedarf einzig eine ForumPostkarte mit unseren Kontaktdaten. Viele unserer Gäste wollen und können uns das aufgrund anderer Erfahrungen zunächst nicht abnehmen. Weil es für sie zu schön ist, um wahr zu sein – noch dazu alles kostenlos … Sobald ich bei meinem Gegenüber Offenheit und Vertrauen spüre, versuche ich meine Haltung in einem zweiten Anlauf ins Wort zu bringen – in der Regel erfolgreich. Dabei mache ich natürlich – allein aufgrund meiner für mich auf Rikscha und Kirchenbank selbstverständ­lichen Priesterkleidung – keinen Hehl aus meinem Glauben. Ich stehe zu meiner Kirche mit allem, was sie ausmacht. Ich stehe zu meinem für mich nach wie vor faszinierenden Priesterberuf. Ich akzeptiere aller­dings gleichzeitig andere Standpunkte und Sichtweisen, und mögen sie mir noch so schräg erscheinen … Auf diese Weise kommen wir oft gut und leicht ins Gespräch.“

Auf Rikschas und Kirchenbank ergeben sich meist einmalige Begegnun­gen mit Menschen, so dass gilt: Erstkontakt gleich Letztkontakt. Den­noch kommt es nach dem lockeren Kennenlernen draußen auf der Straße bisweilen zu weiteren Treffen bzw. sogar zu häufigeren seel­sorglichen Gesprächen in meinem ebenfalls mitten in der Dortmunder City gelegenen Büro. Andere finden aufgrund ihrer positiven Erfahrun­gen mit unseren niederschwelligen Angeboten tatsächlich auch einen neuen oder ersten Zugang zum Glauben, zur Kirche, zu Christus und besuchen jetzt mehr oder weniger regelmäßig die Gottesdienste des Katholischen Forums.

Mehr und mehr üben wir uns in der Haltung, die uns in unserer city­pastoralen Einrichtung quasi ins Stammbuch geschriebene Katholizität mit Leben zu füllen. Wir versuchen, den Menschen in Weite, Offenheit und Freiheit über reale oder vermeintliche Grenzen hinweg zu begeg­nen – sehr bewusst niederschwellig und ohne unterschwelligen Mis­sionseifer. Natürlich haben wir nichts dagegen, wenn es sich anders fügt.

Zu jeder Zeit erlebe ich auch die meinem Eindruck nach flüchtigen Begegnungen und Smalltalks ohne für uns irgendwie erkennbare Früchte und Konsequenzen als gleichwertig. Im Vertrauen auf die biblischen Gleichnisse vom Wachsen der Saat (Mk 4,26–29) und vom Senfkorn (Mk 4,30–32) bin ich überzeugt von der Verheißung Jesu von der ‚großen Ernte‘ (vgl. Lk 10,2). Unabhängig von allen Bewertungen und Kriterien prägt, fasziniert und beflügelt mich dabei die folgende Schriftstelle: „Als Jesus von den Pharisäern gefragt wurde, wann das Reich Gottes komme, antwortete er: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten könnte. Man kann auch nicht sagen: Seht, hier ist es! oder: Dort ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch“ (Lk 17,20 f.).

„Gott einen Ort sichern“ (Madeleine Delbrêl)

In Anlehnung an diese Verheißung Jesu gilt für mich unabhängig von Image und Zustand der real existierenden Kirche, was die deutschen Bischöfe im Jahr 2004 in ihrem Missionshirtenbrief schrieben: „Um­bruchszeiten sind Gnadenzeiten. Sie bedeuten Abschied und Aufbruch, Trauerarbeit und Lust zur Innovation. Gott selbst ist es, der unsere Verhältnisse gründlich aufmischt, um uns auf Neuland zu locken wie Abraham, wie Mose, wie Bonifatius. Ja, wir haben eine Mission in unserem Land und weltweit. Darin sind wir unvertretbar. Haben wir doch mit dem Evangelium eine Botschaft, für die es in dieser Welt keine bessere Alternative gibt. Sie fordert uns heraus, selbst neu auf sie zu hören und sie in ihrer befreienden Kraft in das Gespräch mit unseren Zeitgenossen, mit den anderen Religionen und Völkern einzubringen.“

Dabei ist uns im Katholischen Forum Dortmund die französische Mystikerin Madeleine Delbrêl (1904–1964) begeistert-begeisterndes Vorbild und ermutigende Schutzpatronin. Nach dem von ihr geprägten Imperativ ‚Gott einen Ort sichern‘ versuchen wir, in ihrem Geist mit Hilfe der ‚rollenden Medien‘ Rikschas und Kirchenbank bzw. auch mit dem Fingerkreuz im säkularisierten Milieu der größten Stadt des Ruhr­gebietes den Glauben vorzuschlagen. Ohne Plan von Gott. Mit Mut. Voller Gottvertrauen. Mit Freude am Glauben. In tiefer Christusbezie­hung. Ohne Berührungsängste. In der Banalität des Alltags. Insbeson­dere inspiriert und motiviert uns neben vielen anderen beeindrucken­den Gedanken der ‚Mystikerin der Straße‘ ihr nachfolgend zitierter Text ‚Missionare am Ort‘:

„Oben an der großen Treppe zur Metro schauen wir, wir Missionare im Kostüm oder im Regenmantel, von Schritt zu Schritt zur Stoßzeit über eine Fläche von Menschenköpfen hin, ihre bebende Fläche, die auf die Öffnung des Tores wartet. Mützen, Hüte, Haare jeglicher Farbe. Hun­derte von Köpfen. Hunderte von Seelen. Wir ganz oben.
Und weiter oben und überall: Gott.
Gott überall: aber wie viele wissen das? …

Bald, nach der Ankunft, werden wir im Dunkeln in die freie Luft auf­tauchen und die Straße hinuntergehen, die uns nach Hause führt.
Im Nebel, im Regen oder im Mondschein werden wir den Weg anderer Menschen kreuzen; wir werden hören, wie sie von Paketen, von Schmalz, von Geld, von Beförderung, von Angst, von Streit reden: nie, fast nie von dem, was unsere Liebe ist.

Rechts und links ganz schwarze Häuser mit kleinen Lichtstreifen, die uns sagen, dass es in all dieser Finsternis lebendige Menschen gibt.
Was sie tun, wissen wir wohl: Sie bauen ihre zerbrechlichen Freuden; sie kauen an ihren langen Leiden, sie tun ein wenig Gutes und [bege­hen] eine Menge Sünden.
Wie wenig Licht gäbe es, wenn überall dort ein Lämpchen leuchten würde, wo jemand betet.
Ja, wir haben unsere Wüsten …, und die Liebe führt uns hinein …

Inmitten der Masse, Herz an Herz, zusammengedrängt zwischen so vielen Leibern, auf unserer Sitzbank, wo uns drei Unbekannte Gesell­schaft leisten, in der schwarzen Straße pulsiert unser Herz, wie wenn sich eine Faust um einen Vogel schließt.

Der Heilige Geist, der ganze Heilige Geist in unserem armen Herzen, die Liebe, so groß wie Gott, die in unserem Herzen schlägt wie das Meer, das sich mit aller Kraft befreien will, sich ausdehnen will, einströmen will in all diese undurchdringlichen und ausweglosen Wesen hinein.

Alle Straßen können wir durchkämmen, in allen U-Bahnen sitzen, alle Treppen hochsteigen, den Herrn überallhin tragen: es wird doch ir­gend­wo eine Seele geben, die ihre menschliche Zerbrechlichkeit angesichts der Gnade Gottes bewahrt hat, eine Seele, die vergessen hat, sich in Gold oder Zement zu panzern.

Und dann beten, beten, wie man inmitten der anderen Wüsten betet, beten für all diese Menschen, die uns, die Gott so nahe sind.

Wüste der Massen. In die Masse eintauchen wie in den weißen Sand.
Wüste der Massen, Wüste der Liebe …

Wird sie, diese Liebe, die uns bewohnt, die in uns aufbricht, uns nicht umwandeln?

Herr, Herr, lass wenigstens die Kruste, die mich bedeckt, kein Hin­der­nis für dich sein. Geh durch.
Meine Augen, meine Hände, mein Mund sind dein.
Diese so traurige Frau mir gegenüber: hier ist mein Mund, damit du ihr zulächelst.
Dieses Kind, das vor lauter Bleichsein grau ist: hier meine Augen, damit du es anschaust.
Dieser so müde, so müde Mann: hier ist mein Leib, damit du ihm mei­nen Platz gibst und meine Stimme, um ihm leise zu sagen: „Setzen Sie sich.“
Dieser so eingebildete, so dumme, so harte Bursche: hier ist mein Herz, damit du ihn liebst, stärker, als er je geliebt wurde.

Missionen in der Wüste, Missionen, die nicht fehlschlagen, Missio­nen, die gesichert sind, in denen man Gott mitten in der Welt aussät, in der Gewissheit, dass er irgendwo keimen wird.
Denn: ‚Wo keine Liebe ist, pflanzt Liebe, und ihr werdet Liebe ernten.‘“

(zitiert nach Schleinzer 2017, 232–234)