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Katholische Identität (II)

Wer bin ich, wer sind <em>wir</em> und wer muss das wissen?

Was macht eine (oder: die?) katholische Identität heute aus? Dazu dürfte es, schaut man auf die reale Vielfalt des Christ- und Katholischseins in unserer Zeit, viele verschiedene Sichten geben. Wir haben zwei Autor/innen mit unterschiedlichen innerkirchlichen Perspektiven – die Pastoraltheologin Birgit Hoyer und den Philosophen Josef Bordat – um ihre Antwort und um eine Replik auf die Antwort des jeweils anderen gebeten. In ihren Beiträgen zeigt sich, dass nicht nur die inhaltliche Bestimmung, sondern schon der Begriff der Identität selbst strittig ist.

Erst müsse man um die eigene Identität, die eigene Kultur, die eigene Religion und Konfession wissen, dann könne man in einen interkultu­rellen, einen interreligiösen, einen ökumenischen Dialog eintreten. Diese Argumentation gibt mir seit jeher Rätsel auf und die Beschäfti­gung mit dem Thema „Identität“ lässt den Begriff dann tatsächlich immer stärker entgleiten. Vorweg, es gibt keine abgeschlossene, klar begrenzte, eindeutig formulierte Identität – weder in kultureller, religi­öser noch in persönlicher Hinsicht. Und trotzdem ist Identität ein The­ma, das Menschen beschäftigt. Der Soziologe Dirk Baecker hat dafür eine Erklärung: „Das Identitätsthema ist das wichtigste Thema, das jeder einzelne von uns überhaupt bewegen kann, schon deswegen, weil es diese Identität in einem fixen, festen, stabilen Rahmen gar nicht gibt, sondern sie ständig variiert wird, abhängig von den Beziehungen, in denen man steht, und den Beziehungen, zu denen man gerne Kontakt aufnehmen möchte. […] Identität ist eine Variable und keine Konstan­te“ (Baecker 2015). Der Eigenwert einer Person wie eines Wir scheint erst in der Abgrenzung von dem/der Anderen identifizierbar. Der Bil­dungswissenschaftler Paul Mecheril macht deutlich, dass Selbst- und Fremdanerkennung sich in Abhängigkeit voneinander entwickeln: „Selbstanerkennung und Fremdanerkennung sind zwei Dimensionen sozialer Anerkennung. Hierbei ist davon auszugehen, dass Selbst-Anerkennung sich letztlich nur in Strukturen der Anerkennung durch Andere entwickeln kann. Die Anerkennung durch Andere ist der Selbst-Anerkennung vorgelagert“ (Mecheril 2001).

Kollektive Identitäten

Wir-Identität zeigt sich als Phänomen, das vor allem national verhan­delt wird. In den emotional aufgeladenen Debatten um den Schutz von Außengrenzen erscheint es Politikern wie „besorgten Bürgern“ wichtig, sich nach innen hin einer nationalen Identität zu vergewissern, die mit einem abgegrenzten Kulturraum und christlicher Religion gleichgesetzt wird. Ergebnis der Gleichsetzung: ein Volk, das sich rechte Agitatoren wieder zurückholen wollen. Wohin ist da wer woher zu holen? Identität als unveränderliches Kontinuum, das problemlos aus seinem Schrein geholt werden kann, um sich der eigenen Bedeutung zu vergewissern? Dem vorgeblich homogenen Volk wird auf der Messlatte möglicher Wir-Identitäten Multikulti diametral entgegengesetzt. Paul Mecheril zeigt allerdings auf, dass das, was in Deutschland unter Multikulturalismus verhandelt wird, dem Anspruch eines Wir in kultureller Viel­heit nicht gerecht wird. Er kritisiert, dass mit dem Begriff eine Akzeptanz der Vielheit in einer nationalen Einheit signalisiert, in der Realität jedoch die Unterscheidung in Wir und Nicht-Wir manifestiert wird. Die not­wendigen Debatten über Machtverhältnisse und soziale Bedingungen werden dadurch sogar blockiert. „Der Multikulturalismus verhindert die Auseinadersetzung [sic] damit, wer die gesellschaftliche Defini­tionsmacht besitzt, das Andere als Andere zu klassifizieren und zu behandeln“ (Mecheril 2001).

Identität wird in der deutschen Politik mit spezifisch deutscher Kultur und dem Begriff der Leit­kultur verknüpft. Für den Erfinder des Begriffs, den Politikwissenschaftler Bassam Tibi, basiert eine europäische Leit­kultur auf westlichen Wertvorstellungen: „Die Werte für die erwünschte Leitkultur müssen der kulturellen Moderne entspringen, und sie hei­ßen: Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte und Zivil­gesellschaft“ (Tibi 1998, 154). Diese Werte sind keine Kriterien zur Ausgrenzung und kein nationalistisches Bollwerk gegen den Einfall des Fremden. Im Sinne von Bassam Tibi bieten sie Identität, die Möglich­keit, sich damit zu identifizieren, in ein permanent neu entstehendes Wir zu integrieren. Identität im aktuellen politischen Sprachgebrauch beansprucht zeitliche, räumliche und persönliche Totalität – Ewigkeit, den ganzen Menschen, die Kultur, das christliche Abendland. Identität braucht hier keine Beweglichkeit und keine Entwicklung. Es gilt, sich einen aktuellen oder verloren geglaubten Status quo zu sichern und sich seiner zu versichern. Lutz Niethammer warnt in seinem Buch „Kollek­tive Identität“, der moderne Begriff ‚kollektive Identität‘ verberge in seiner Strukturlosigkeit so viele gefährliche Irritationen, dass es am besten wäre, ihn aus unserem politischen Wortschatz einfach zu strei­chen (vgl. Niethammer 2000, 627). Allerdings: „Ausgerechnet die Struk­turlosigkeit verleihe dem Begriff die Stärke: Er verbirgt und betont ‚etwas unsagbar Wesentliches‘“ (Popova 2006). Wie Dirk Baecker sieht auch Lutz Niethammer eine fatale Verbindung zwischen Identität und Gewalt. „Jede Identitätsbestimmung spiele bewusst oder unbewusst eine Vermittlerrolle zwischen Kultur und Gewalt […] ‚einen Schutz vor dem unbewussten Hinübergleiten aus der harmlos erscheinenden For­derung nach kultureller oder politischer Identität in die Legitimation von Gewalt‘ gebe es nicht“ (ebd.).

Katholische Identität

Der katholische Theologe Joseph Schumacher kritisiert in seinem 2016 veröffentlichten Buch „Die Identität des Katholischen“, dass „selbst viele Theologen und Verantwortungsträger der Kirche […] nicht mehr […] wissen, was katholisch ist. […] Die Kenntnis der Eigenart des Katho­lischen ist vor allem eine unverzichtbare Voraussetzung für eine ehrli­che Ökumene“ (Schumacher 2016, 9). Das Katholische ist für Schuma­cher identisch mit der katholischen Kirche. „Was man hier bewundert […], das ist ihre Unvergänglichkeit, […] Geschlossenheit der Lehre […], in der sie dem Menschen einen festen Standpunkt gibt inmitten der Entwurzelung und Zerrissenheit der Zeit“ (ebd. 13). Die Katholizität der Kirche macht der evangelische Theologe Eberhard Jüngel in der Aposto­lizität der Kirche fest, in ihrer Verpflichtung auf die „mit der Per­son Jesu Christi identischen, in der heiligen Schrift auf ursprüng­li­che Weise be­zeugten Wahrheit des Evangeliums. […] Und jede Wahr­heit, auch die des Evangeliums, kann gar nicht anders als eine allgemeine, mithin jeden Menschen angehende Erkenntnis zur Geltung zu bringen“ (Jüngel 2007, 17). Als eines von zehn Formalprinzipien des Katholischen macht Schumacher das „Katholische ‚et – et‘“ gegenüber dem „Protes­tan­ti­schen ‚aut – aut‘“ aus (Schumacher 2016, 45). Entge­gen den Aus­füh­run­gen Schumachers, der sich ausgehend von diesem Prinzip mit der Un­ter­scheidung des Katholischen und Protestantischen befasst, sehe ich in dem inklusiven Denken eines Sowohl-als-auch, Schon-und-noch-nicht eine Ressource zur Deutung von Identität als Zukunfts­begriff, die die scharfe Abgrenzung des Entweder-oder – menschlich und unmensch­lich, christlich und nicht-christlich – im ethischen Sinne einschließt.

Identität als Welt- und Zukunftsoffenheit

Wenn sich die theologische Identitätsdiskussion nicht in der Identifizie­rung des Konfessionellen erschöpft, sondern den Begriff auf der Grund­­lage biblischer Texte und menschlicher Glaubenserfahrungen bearbei­tet, kann sie ihn aus den Erstarrungen befreien und für die Gestaltung von Zukunft nutzbar machen. Identität lässt sich nicht als von jeher und ewig gültiger Wertekanon formulieren, sondern als gesellschaftliches, kulturell-religiöses Desiderat, an dem es sich ausrichten lässt, mit dem man allerdings jedem noch so engagierten Streben zum Trotz nie ganz identisch sein wird. Es ist eine Identität des Menschlichen, die hier als Angebot des Christentums und an das Christentum formuliert wird, eine Identität unter Vorbehalt des Tuns, der sich niemand, kein Mensch und keine Institution, sicher sein kann. Die Suche nach Identität ist eher eine Übung der Aufmerksamkeit sich selbst gegenüber als eine Ausrich­tung und ein Aneignen von kulturellen Werten. Werte, Identität bilden sich im Aushalten des Eigenen. „Es ist nicht notwendig, dass du aus dem Haus gehst. Bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht ein­mal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor dir winden“ (Kafka 1980, 205). Ziel von Identitätsfin­dungsprozessen ist politische, soziale, personale und, sollte sie nicht bereits in diesen Dimensionen aufgehen, religiöse Handlungsfähig­keit. Handlungsfähig­keit entsteht im Loslassen. „Auch die Worte, Be­griffe, Dogmen und Gebote des Christentums leben nur dann, wenn sie zwar fixiert und dadurch bewahrt, aber gleichzeitig auch wieder losge­lassen und freigegeben werden“ (Peters 2017, 17). Die Identität als Glau­bende lässt sich damit nicht im „einfach glauben“ vorgegebener Sätze fest­machen, sondern im Glauben an den „Menschen als Ort der Gegen­wart Gottes“ (ebd. 33). Christliche Identität entwickelt sich aus dem Blick der Verachteten, des Verlorenen, der Verzweiflung. „Das Reich Gottes […] ist immer schon da, weil die Armen gekommen sind, die die Gleich­gültigkeit ihnen gegenüber als das entlarven, was sie ist: Struktur ge­wordene Gewalt“ (ebd. 37). Identität wächst, sie ist nicht herbeizu­glauben, vielleicht nie eindeutig und endgültig festzu­stellen. Auf kei­nen Fall ist sie einsetzbar gegen den, die, das Andere zu Grenzziehung und Ausgrenzung. Die Frage nach Identität windet sich im christlichen Kontext aus nationalen Engführungen in die Weite einer konfessionell und religiös entgrenzten Katholizität und wandelt sich von der Frage „Wer bin ich?“ oder „Wer sind wir?“ zur Frage „Wer will ich, wer wollen wir sein?“ im Sinne einer radikalen Menschlichkeit und zur Frage „Was unternehmen wir jetzt?“, um diese Frage handelnd zu beantworten.