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Die Welt als Schöpfung Gottes

Systematisch-theologische Aspekte

Der Mensch und sein Verhältnis zur Schöpfung – eine Frage, die die Theolo­gie seit jeher beschäftigt. Dirk Ansorge nimmt uns nicht nur mit in die Aus­einandersetzungen in der Theologiegeschichte, sondern stellt auch die gegenwärtigen Herausforderungen vor. Denn nur vom Verständnis der Schöpfung her lassen sich (theologisch) die Fragen zur Nachhaltigkeit beantworten.

Wenn Christen und Christinnen über ihren Glauben nachsinnen, dann werden sie dabei vermutlich nicht in erster Linie an die Schöpfung den­ken. Jesus von Nazareth hat ja nicht zur Bewahrung der Schöpfung auf­gerufen, sondern das Reich Gottes gepredigt. Dessen Zeichen freilich ist eine erneuerte Welt: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote werden auferweckt und die Armen dürfen wieder Hoffnung schöpfen (vgl. Lk 7,22; Mt 11,4).

Schöpfung und Bund

Gegen die Macht des Übels bezeugen Christen und Christinnen einen Gott, der will, dass menschliches Leben trotz Leiden und Tod, trotz Sünde und Schuld gelingt und dass Menschen am Ende an Gottes eige­nem Leben teilhaben. Denn im Zentrum christlichen Glaubens steht die Überzeugung, dass Gott sich in Jesus von Nazareth als unbedingt für die Menschen entschiedene Liebe geoffenbart hat (vgl. Pröpper 1991, 194–198). Von daher begreift die Kirche als Nachfolgegemeinschaft Jesu ihre Sendung in der Welt: „Der Mensch in der vollen Wahrheit seiner Existenz, seines persönlichen und zugleich gemeinschaftsbezogenen und sozialen Seins […] – dieser Mensch ist der erste Weg, den die Kirche bei der Erfüllung ihres Auftrags beschreiten muss“ (Redemptor hominis 14). Und dieser Mensch ist in der Perspektive christlichen Glau­bens nicht bloß zufälliges Produkt der Evolution (so etwa Papst Bene­dikt XVI.: „Wir sind nicht das zufällige und sinnlose Produkt der Evolu­tion. Jeder von uns ist Frucht eines Gedanken Gottes. Jeder ist gewollt, jeder ist geliebt, jeder ist gebraucht“ [Benedikt XVI. 2005]). Der Mensch ist vielmehr das freie Gegenüber eines Gottes, der sich von Ewigkeit her dazu bestimmt hat, den Menschen als sein Gegenüber ins Sein zu rufen, um ihm in Freiheit zu begegnen.

Der evangelische Theologe Karl Barth (1886–1968) hat dies in seiner Kirchlichen Dogmatik prägnant formuliert: „War die Schöpfung der äußere Grund des Bundes, so war er ihr innerer Grund“ (Barth 1945, 262). Gottes Bund mit dem Menschen ist letztes Motiv für die Erschaf­fung der Welt; denn sie ist die materiale Voraussetzung des Bundes. (Dies gilt auch dann, wenn nach Johannes Duns Scotus die Inkarnation des ewigen Wortes das letzte Schöpfungsmotiv ist; denn im Menschge­wordenen begegnet der Vater dem vollkommenen Geschöpf. In seiner Kreuzeshingabe hat Jesus einen neuen und unüberbietbaren Bund [1 Kor 11,25; Lk 22,20; vgl. Jer 31,31] gestiftet, an dem fortan alle Men­schen teilhaben können [vgl. Dettloff 1985].) Das Nichtgöttliche – die Welt – ist die notwendige Voraussetzung dafür, dass es außerhalb Gottes etwas gibt, mit dem der dreifaltige Gott in Beziehung treten kann. Ohne die Erschaffung der Welt hätte es den Menschen nicht gegeben und ohne den Menschen keinen Bund Gottes mit dem, was nicht Gott ist.

In dieser Perspektive erscheint der Mensch als Ziel der Schöpfung; denn nur einem freien Gegenüber kann Gott ein Bundesverhältnis anbieten. Karl Barth noch einmal zuspitzend formuliert deshalb Karl Rahner: „Wenn Gott Nicht-Gott sein will, entsteht der Mensch“ (Rahner 1976, 223). Nicht also die tote Materie, der schweigende Kosmos in seinen unermesslichen Dimensionen, ist das Ziel göttlicher Kreativität. Viel­mehr zielt Gottes Wille von Anfang an auf ein mit Verstand begabtes Wesen, das sich ihm in Freiheit zuzuwenden imstande ist: den Men­schen. Und deshalb kann man mit Rahner den Men­schen als das definie­ren, „was entsteht, wenn die Selbstaussage Gottes, sein Wort, in das Leere des gott-losen Nichts liebend hinausgesagt wird“ (ebd. 222).

Dass Gott der Schöpfung nicht bedarf, um sich als er selbst zu vollzie­hen, bringt die theologische Formel von der „creatio ex amore“ auf den Begriff: Gott ist bereits in sich selbst vollkommene und dreifaltig-lie­bende Beziehung von Vater, Sohn und Geist. Unterschiedenheit ist bereits in Gottes eigenem Leben verwirklicht, ohne dass damit die göttliche Einheit Schaden nähme. Ganz im Gegenteil: Der dreifaltige Gott vollzieht sich selbst als Fülle des Seins und beziehungsreiches Leben (gegenüber dem Islam macht Karl Rahner deshalb die christliche Trinitätslehre mit Recht als „radikalen Monotheismus“ geltend; vgl. Rahner 1978). Zugleich ist die innergöttliche Unterschiedenheit der drei Personen Ermöglichungsgrund für die kreative Setzung einer Differenz, die das Nicht-Göttliche als das gegenüber Gott radikal Andere verstehen lässt.

Die Schöpfung gründet demnach in der ewigen und beziehungsreichen Unterschiedenheit von Vater, Sohn und Geist. Denn das innertrinitari­sche Leben, das sich in selig-unbedürftiger Vollkommenheit als lieben­de Beziehung der drei göttlichen Personen vollzieht, drängt aus innerer Dynamik über sich hinaus: „In Gott an sich existiert die reale Differenz zwischen dem einen und selben Gott, insofern er in einem und notwen­dig der ursprungslose, zu sich selbst sich vermittelnde (Vater), der in Wahrheit für sich Ausgesagte (Sohn) und der in Liebe für sich selbst Empfangene und Angenommene (Geist) ist, und dadurch derjenige ist, der in Freiheit sich ‚nach außen‘ selbstmitteilen kann“ (Rahner 1967, 384). Der dreifaltige Gott will in freiem und liebendem Entschluss das Andere seiner selbst (vgl. Moltmann 1985, 88 f.; Ansorge/​Kehl 2018, 43–44.193 f.). Dieses Andere, die Welt, ist in seinem Sein restlos von Gott abhängig. Denn allein der dreifaltige Gott ist diejenige Macht, die den Unterschied zwischen Sein und Nichts zugunsten des Seins konsti­tuieren kann. Ohne Gott hingegen wäre „alles nichts“ (vgl. Höhn 2011, 123–128).

Diese restlose Abhängigkeit der Welt von Gott wirft die Frage auf, wie die Welt überhaupt als das von Gott radikal Unterschiedene gedacht werden kann. Gäbe es diese Unterschiedenheit nicht, dann gelangte man zu einem monistischen Pantheismus: Alles Endliche wäre Gott, und Gott wäre alles. Diese Konsequenz ist nur dadurch zu vermeiden, dass in der Welt ein Unbedingtes angenommen wird, das zwar in seinem Sein radikal von Gott abhängig, in seinem Vollzug jedoch autonom ist (vgl. Pröpper 2011, 488–578). Als dieses Unbedingte im Geschaffenen identifizieren christliche Theologen im Anschluss an Immanuel Kant die menschliche Freiheit. Denn nur die menschliche Freiheit vollzieht sich als aus keiner Naturkausalität ableitbare Spon­taneität endlichen Wollens. Das schließt keineswegs aus, dass die Frei­heit gerade auch als „Autonomie“ Vernunftgründe für ihren jeweiligen Entschluss anführen kann (vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Meta­physik der Sitten [1785], III. Abschnitt [Akad.-Ausg. IV 446-458]; vgl. weiterhin Wendel 2005).

Vor diesem Hintergrund drängt sich die atemberaubende Schlussfolge­rung auf: Der allmächtige und dreifaltig-liebende Gott hat das alle menschliche Vorstellungskraft sprengende Universum allein mit dem Ziel geschaffen, dass in ihm am Ende einer langen Evolutionsgeschichte mit Vernunft und Freiheit begabte Wesen auftreten, die sich ihrem Schöpfer liebend zuwenden können. Der Franziskaner-Theologe Johannes Duns Scotus (gest. 1308) hat dies prägnant formuliert: „Deus vult condiligentes“ – Gott will Wesen, die mit ihm zu lieben imstande sind (Johannes Duns Scotus, In Sent. III [Opus Oxoniense, p. III, dist. 32, qu. 1, n. 6; vgl. Rep. Paris., p. III, dist. 7, qu. 4, n. 4]).

Welch eine Provokation: Sollte Gott das unermessliche Universum tat­sächlich allein mit dem Ziel geschaffen haben, dass darin irgendwann einmal in einer verlorenen Galaxie auf einem winzigen Planeten Wesen entstehen, die – mit Vernunft und Freiheit begabt – ihren Schöpfer als den anzuerkennen im Stande sind, als der er sich ihnen in der Geschich­te des Volkes Israel und in der Person Jesu von Nazareth geoffenbart hat: als den guten Urheber aller Dinge, der nichts anderes will als das selige Wohlergehen seiner Geschöpfe? Wird man nicht schon angesichts der aktuellen ökologischen Entwicklungen jeden theologisch begründeten Anthropozentrismus als verfehlt zurückweisen müssen?

Ist die Schöpfung tatsächlich die materiale Voraussetzung des Bundes, den Gott von Ewigkeit her mit den Menschen schließen wollte, dann scheint dem nicht bloß jegliche Art von Naturübel entgegenzustehen (vgl. Weber 2013). Vielmehr setzt derzeit offenbar auch der Mensch alles daran, die materialen Grundlagen dieses Bundes zu zerstören. Großflä­chige Rodungen, Überfischung der Meere, Ausbeutung der Bodenschät­ze, Vergiftung der Atmosphäre – alles dies führt weltweit zu einem dramatischen Artensterben und zur Verknappung natürlicher Ressour­cen. Ökologische Katastrophen wie lokale Unwetter oder Sturmfluten, der globale Klimawandel und sich ausbreitende Dürren provozieren zwischen Viehzüchtern und Ackerbauern gewaltsame Auseinanderset­zungen um nutzbares Wasser. Zunehmende soziale Spannungen und weltweite Migrationsbewegungen sind unausweichliche Folgen eines verfehlten Umgangs des Menschen mit der Natur.

Kosmische Anthropozentrik

Diese in ausnahmslos allen Teilen der Welt spürbaren Veränderungen der Lebensumstände von Mensch und Natur haben in den zurücklie­genden Jahren auch die Theologie zu einer vertieften Reflexion auf die Schöpfung veranlasst. Erstmalig hat Papst Franziskus im Jahr 2005 mit seiner Enzyklika Laudato si’ die Schöpfung in den Mittelpunkt eines lehramtlichen Schreibens gestellt. Das postsynodale Schreiben Querida Amazonia (2020) hat zahlreiche in Laudato si’ angestellte Überlegungen bekräftigt und mit Blick auf die dramatische Situation in Amazonien konkretisiert. In beiden Schreiben betont der Papst die enge Verknüp­fung von Ökologie und sozialer Frage. Wiederholt spricht er von einer „Humanökologie“, die der Mensch zurückgewinnen müsse, um seiner schöpfungsgemäßen Bestimmung entsprechend zu leben und zu handeln (LS 148; 155).

Auch für Franziskus ist der Mensch das vom dreifaltigen und liebenden Gott gewollte Ziel der Schöpfung. Seine zentrale Stellung gewinnt der Mensch aber nicht losgelöst von der Schöpfung als ganzer. Der Mensch ist deren Teil und zugleich von Gott dazu berufen, mithilfe seiner Ver­nunft und Freiheit dem Ganzen zu dienen. „Man kann vom Menschen nicht einen respektvollen Einsatz gegenüber der Welt verlangen, wenn man nicht zugleich seine besonderen Fähigkeiten der Erkenntnis, des Willens, der Freiheit und der Verantwortlichkeit anerkennt und zur Geltung bringt“ (LS 118). Deshalb sind wissenschaftliche Erkenntnisse und humane Fähigkeiten als Dienst an Mensch und Natur zur Geltung zu bringen.

Anders als nach der Darstellung mesopotamischer Schöpfungsmythen ist der Mensch nicht dazu erschaffen worden, um untergeordneten Göttern die mühsame Feldarbeit zu ersparen; vielmehr soll er Gottes Willen entsprechend leben und seinen Schöpfer loben. Einem Psalm zufolge ist der Mensch „wenig geringer“ geschaffen als Gott selbst (Ps 8,6). Und Irenäus von Lyon formuliert prägnant: „Gottes Ehre ist der lebendige Mensch; das Leben des Menschen aber ist die Schau Gottes“ (Haer. IV, 20, 7).

Nach biblischem Verständnis sind die Geschöpfe dem Menschen zuge­ordnet (vgl. Gen 2,18–20). Die Erde ist dem Menschen anvertraut, damit er mit ihren Gaben verantwortungsvoll umgehe (vgl. Hardmeier/​Ott 2015). Die Zielbestimmung alles Geschaffenen wird nicht zuletzt im Buch Jesaja deutlich, wo eine versöhnte Natur – der Wolf lagert neben dem Lamm und der Säugling spielt an der Höhle der Viper – als Sinnbild für das messianische Zeitalter erscheint (Jes 11).

Es wäre deshalb ein grobes Missverständnis, wollte man Gen 1,28 („Macht euch die Erde untertan“) in dem Sinne deuten, dass damit der Mensch zur unbeschränkten Ausbeutung unseres Planeten autorisiert wäre (vgl. Klages 1956; White 1967; Amery 1972; Drewermann 1982). Zweifellos lag es ganz außerhalb der Vorstellungskraft der altorienta­lischen Menschen, die Natur in jenem Maße manipulieren zu können, wie dies im technisch-industriellen Zeitalter möglich ist. Vielmehr fanden sich die Menschen bis weit in die Neuzeit hinein in vielfacher Hinsicht den Launen der Witterung, der Mühsal des Alters, den Be­schwerden von Hunger und Krankheit oder den Gefährdungen von Geburt und Tod ausgeliefert.

Infragestellungen einer guten Schöpfung

Erfahrungen wie diese provozierten bereits in der Antike die Frage nach der Verantwortung für die Übel in der Welt. Manche sahen in der elen­den Verfassung von Welt und Mensch das Resultat eines kosmischen Unfalls; in dessen Folge findet sich die Seele des Menschen nunmehr eingekerkert in das Gefängnis der Materie und des Leibes vor. Hieraus vermag sie nur die Erkenntnis (gnosis) ihrer göttlichen Herkunft zu befreien. Diese Erkenntnis wiederum vermag die Seele nicht aus sich selbst heraus zu gewinnen; sie wird ihr vielmehr durch einen göttlichen Heilsbringer und Offenbarer vermittelt (vgl. zur Gnosis Jonas 1999; Rudolph 2005; Markschies 2009; Aland 2014).

Solchen in der Regel dualistisch-pessimistischen Deutungen der Welt, die in der Spätantike etwa zeitgleich mit dem Christentum aufkamen, traten christliche Theologen mit aller Entschiedenheit entgegen. Sie erinnerten an die biblische Überlieferung, wonach Gott nach vollbrach­tem Schöpfungswerk feststellte, dass alles „sehr gut“ war (Gen 1,31). Deshalb hatte ihrer Überzeugung nach Christus bei seiner Menschwer­dung auch nicht einen von Materie unbefleckten Scheinleib angenom­men; vielmehr hat sich das göttliche Wort „eingefleischt“, d. h. inkar­niert (Joh 1,14). Auch wenn „die Seinen ihn nicht aufnahmen“, wie es im Johannesprolog heißt, so kam der göttliche Logos doch „in sein Eigentum“ (Joh 1,11). Ist im Wort alles geschaffen (vgl. Kol 1,16; Röm 11,36), dann ist die irdische Welt dem Wort nichts Fremdes; sie ist nichts Böses, dem es durch Askese, Weltflucht oder eine höhere Er­kenntnis zu entfliehen gälte.

Es war im 2. Jahrhundert der Kirchengeschichte vor allem Irenäus von Lyon, der gegenüber gnostischen Bewegungen auch innerhalb des Christentums auf der Güte der Schöpfung beharrte. Zwar sind welt­flüchtige Tendenzen in Theologie und Frömmigkeit des Christentums nicht zu leugnen; diese speisen sich aus neuplatonischem Denken eben­so wie aus dem Ideal eines „engelgleichen Lebens“ (bios angelikos), wie es insbesondere von Mönchen vertreten wurde. Als aber im 12. Jahr­hundert der Kirchengeschichte noch einmal zu einer dualistisch-pessi­mistischen Weltsicht neigende Gruppierungen die Sakramente der Kirche mit dem Argument ablehnten, diese würden mit irdischen Elementen – Wasser, Brot, Wein – gefeiert, bekräftigten Päpste und Konzilien entschieden die Güte der Schöpfung (so vor allem auf dem vierten Laterankonzil von 1215 [DzH 800–802]; vgl. u. a. Auffarth 2016).

Dennoch bleibt die Provokation des Übels und des Leidens in der Welt: Wenn die Welt nicht aus einem kosmischen Unfall hervorgegangen ist, sondern aus einem freien Entschluss Gottes – warum gibt es dann in ihr Leiden, Bosheit und Übel? Und warum verhindert Gott die Übel nicht? Bereits in der vorchristlichen Antike stand die Vereinbarkeit der gött­lichen Eigenschaften Allmacht, Güte und Allwissenheit auf dem Prüf­stand: Wenn Gott um die Übel in der Welt weiß und wenn er allmächtig ist, warum schafft er dann die Übel nicht fort? – so die bohrenden Fra­gen eines heidnischen Philosophen, dessen nachdenkliche Skepsis der christliche Theologe Laktanz überliefert (Laktanz, De ira Dei, 13; vgl. auch Sextus Empiricus, Grundriss der pyrrhonischen Skepsis III 10).

Christliche Theologen haben versucht, die unleugbare Existenz von Übeln in der Welt mit Gottes schöpferischer Güte zu versöhnen. Sofern sie es nicht menschlicher Bosheit zuordnen konnten, haben sie bei­spielsweise darauf hingewiesen, dass das Gute in der Welt gar nicht als solches erkennbar wäre, gäbe es nicht zugleich auch das Böse. Oder dass das Erleiden von Übel die vertretbare Folge einer göttlichen Pädagogik sei, welche darauf abziele, den schuldigen Gehorsam gegenüber Gottes Geboten einzuschärfen. Im Rahmen neuplatonischer Ontologie schließ­lich hat der nordafrikanische Bischof Augustinus (354–430) das Übel in der Welt als „Mangel an Gutem“ zu erklären versucht (vgl. Augustinus, De natura boni 4).

Auf Dauer freilich vermochten solche Entwürfe nicht zu überzeugen. Angesichts der abgründigen Erfahrung sinnlosen Leidens scheiterten alle Versuche einer „Entübelung des Übels“ (vgl. Marquard 1984, 21–24). Den letzten Versuch einer Rationalisierung des Übels unter­nahm Gottfried Wilhelm Leibniz in seinen Essais de Théodicée (1710), indem er die faktisch existierende Welt als das unter den Bedingungen der Endlichkeit bestmögliche Resultat göttlichen Schöpferwirkens ver­standen wissen wollte (vgl. von Stosch 2013, 57–59). Leibniz hatte ver­mutlich darin Recht, dass Gott unter den Bedingungen der Endlichkeit tatsächlich keine Welt schaffen konnte, in der es kein Leiden und keinen Schmerz gibt. Alleinige Alternative wäre es für ihn demnach gewesen, auf die Erschaffung einer Welt überhaupt zu verzichten. Demnach konnte ein unendlich guter und unendlich weiser Gott in seiner All­macht und Allgüte keine bessere Welt erschaffen als die vorfindliche.

Unter dem Eindruck der durch das verheerende Erdbeben von Lissabon (1755) verursachten Leiden freilich geißelte Voltaire den Versuch von Leibniz als Zynismus. Mit Blick auf das vielfältige Leiden in der Natur sprach der Philosoph Schopenhauer von der „schlechtesten aller mög­lichen Welten“ (vgl. Artur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vor­stellung, Teil IV, 46 [Werke II, Bd. 2, S. 675–678]; vgl. auch ders., Parerga und Paralipomena [Kleinere Philosophische Schriften, Bd. 2, S. 272]). Ähnlich verzweifelte der Dichter Reinhold Schneider nach seinen Be­suchen in den Wiener naturhistorischen und ethnographischen Museen im Winter 1957/58 an der gütigen Vorsehung eines der Schöpfung liebe­voll zugewandten Gottes (vgl. Schneider 1964, 119–120.​129–130.​149–150.​170–171.178). Und einem Artikel in der Tageszeitung taz vom 28. Februar 2020 zufolge erinnert die weltweite Ausbreitung des Corona-Virus schmerzhaft daran, „was wir in unserer Hybris längst verdrängt haben: Die Natur ist nicht nett“ (Pötter 2020).

Schöpfungsverantwortung

In der Tat: Wie lässt sich angesichts des maß- und sinnlosen Leidens in der Welt verantwortet am Glauben an der Güte Gottes und der Schöp­fung festhalten? Offenbar hat sich bereits in der Frühen Neuzeit etwas an der Wahrnehmung von Welt und Mensch geändert. Hatten die Men­schen der Antike und des Mittelalters Krankheiten, Naturkatastrophen oder Kriege als Ausdruck göttlichen Zorns über die Sünden der Men­schen ergebungsvoll hingenommen, so sahen sich die Menschen an der Schwelle zur Neuzeit außerstande, solche Erfahrungen redlicherweise mit ihrem Glauben an die Güte Gottes zu vereinbaren (vgl. Ammicht-Quinn 1992).

Angesichts des Leidens in der Welt hat deshalb Georg Büchner zu Be­ginn des 19. Jahrhunderts die Konsequenz gezogen, den Glauben an Gott als unverantwortlich zu diskreditieren: „Warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus“ (vgl. Büchner, Dantons Tod [1853], 3. Akt, 1. Szene). Mit der Verabschiedung Gottes jedoch lastete die volle Ver­antwortung für einen heilvollen Ausgang der Geschichte fortan auf dem Menschen. Auf dieser Linie deutete Odo Marquard die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts als verzweifelte Versuche, das Glück des Menschen heute und in Zukunft aus eigener Kraft zu gestalten (vgl. Marquard 1981, besonders 48 f.).

Inzwischen gelten nicht nur die großen Ideologien Faschismus und Maoismus, Sozialismus und Kommunismus, sondern auch der ökono­mische Liberalismus als gescheitert. Die neoliberale Verheißung, der „Wohlstand der Nationen“ (Adam Smith) lasse sich durch eine ungezü­gelte marktwirtschaftliche Dynamik herbeiführen, findet kaum noch Gefolgschaft (vgl. u. a. Deneen 2018; Reckwitz 2019). Angesichts be­grenzter Ressourcen mahnt deshalb nicht allein Papst Franziskus zu einer neuen Bescheidenheit im Umgang mit den Gaben der Schöpfung: „Niemand verlangt, in die Zeit der Höhlenmenschen zurückzukehren, es ist aber unerlässlich, einen kleineren Gang einzulegen“ (LS 114).

Obwohl ein entschiedener Kritiker des Sozialismus, hatte auch Papst Johannes Paul II. zu keinem Zeitpunkt seines langen Pontifikats (1978–2005) den Kapitalismus vorbehaltlos unterstützt. Vielmehr geißelte er in seinen Sozialenzykliken wiederholt die dem ungezügelten Kapitalismus innewohnende Tendenz zu Individualismus, Profitgier und Verantwortungslosigkeit (so etwa Centesimus annus 35: „Man sieht daraus, wie unhaltbar die Behauptung ist, die Niederlage des sogenann­ten ‚realen Sozialismus‘ lasse den Kapitalismus als einziges Modell wirt­schaftlicher Organisation übrig. Es gilt, die Barrieren und Monopole zu durchbrechen, die so viele Völker am Rande der Entwicklung liegenlas­sen. Es gilt, für alle – Einzelne und Nationen – die Grundbedingungen für die Teilnahme an der Entwicklung sicherzustellen“; vgl. auch dessen Enzykliken Laborem exercens und Sollicitudo rei socialis). Insofern stellt der vielzitierte und auch vielfach kritisierte Satz von Papst Franziskus in Evangelii gaudium (2013) „Diese Wirtschaft tötet“ (EG 238) gewiss eine rhetorische Zuspitzung dar; er liegt aber durchaus auf der Linie der päpstlichen Sozialverkündigung im 20. Jahrhundert.

Immer wieder haben die Päpste auf die Verantwortung der jetzt leben­den Menschen für zukünftige Generationen hingewiesen. Diese Per­spektive hat durchaus biblische Wurzeln; denn schon im Prolog zum Dekalog schärft Gott dem Volk Israel ein, es solle seine Satzungen und Gebote halten, „damit es dir und deinen Kindern nach dir gut geht und du lange lebst auf dem Boden, den dir der Herr, dein Gott, gibt für alle Zeit“ (Dtn 4,40; vgl. 6,3.18; 12,25.28).

Zu Gottes Satzungen und Geboten zählt eine Vielzahl von Vorschriften, welche die zwischenmenschlichen Beziehungen und den Umgang mit den Gaben der Schöpfung betreffen. Der Sabbat als Schöpfungsfest er­innert daran, dass Tätigkeit und Arbeit im Leben des Einzelnen wie des Volkes nicht das Ganze und Letzte sind. Und auch, wenn es sich bei den Maßgaben für das Jobeljahr (Lev 25) um literarische Fiktionen handeln sollte (vgl. Fried/​Freedman 2001), so spiegeln sie doch die Überzeu­gung, dass das Land den Menschen nur geliehen, nicht aber ihnen zur Ausplünderung überlassen ist. Vielmehr sollten diejenigen, die das Land bebauten, seinen Ertrag teilen – und dies besonders mit den Armen, den Witwen, den Waisen und den Fremden (vgl. LS 71).

Noch das Zweite Vatikanische Konzil war in seiner Pastoralkonstitution Gaudium et spes (1965) von einem aus heutiger Perspektive fast naiven Fortschrittsoptimismus geprägt. Trotz des sich bereits seinerzeit ab­zeichnenden Bevölkerungswachstums und trotz des Bewusstseins möglicher Gefährdungen schien es möglich, unter Zuhilfenahme von Wissenschaft und Technik Armut und Hunger auf Dauer und nachhaltig zu überwinden, Krankheiten zu lindern und den Frieden unter den Völkern zu gewährleisten (vgl. GS 64–90). Die Konzilsväter hielten es für durchaus realistisch, dass in naher Zukunft die Menschen auf der Erde ein Leben in Frieden, Wohlstand und Sicherheit führen können.

Schon bald jedoch drangen die „Grenzen des Wachstums“ (1972) in das öffentliche Bewusstsein. Hinzu trat die wachsende Erkenntnis, dass ein ungezügelter globaler Kapitalismus sich nur allzu oft als Fortsetzung des nach dem Zweiten Weltkrieg schrittweise überwundenen Kolonia­lismus gerierte. So waren es vor allem die Kirchen des globalen Südens, die als erste auf die verhängnisvollen Konsequenzen von Ausbeutung des Landes und Raubbau an der Natur in ihren Regionen hinwiesen; z. B. veröffentlichte die Konferenz des Dominikanischen Episkopats 1987 die Carta pastoral sobre la relación del hombre con la naturaleza und die Kon­ferenz der Katholischen Bischöfe der Philippinen 1988 den Hirtenbrief What is Happening to our Beautiful Land? (vgl. aber auch Octogesima adveniens von 1977, in dem Papst Paul VI. in Nr. 21 eindringlich warnt: „Infolge einer rücksichtslosen Ausbeutung der Natur läuft er [der Mensch] Gefahr, sie zu zerstören und selbst Opfer dieser Zerstörung zu werden“). Der Ruf der Kirchen des Südens verhallte in den Kirchenge­meinden des Nordens freilich oft ungehört. Erst allmählich engagierten sich Christen und Christinnen in der ökologischen Bewegung. 1983 kon­stituierte sich der zunächst vorrangig im evangelischen Raum angesie­delte „Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“. Seine Analysen, Stellungnahmen und Empfehlungen fan­den zunehmend auch in offizielle Verlautbarungen katholischer Bischö­fe Eingang; eine frühe Stellungnahme veröffentlichte die Deutsche Bi­schofskonferenz 1988 mit Gottes Gaben – Unsere Aufgabe. Die Erklä­rung von Stuttgart.

Im Grunde sind es erst die durch den Klimawandel auch im Norden unübersehbar gewordenen Folgen einer ungezügelten neokapitalis­tischen und neoliberalen Wirtschaft, welche die globale Schöpfungs­verantwortung der Menschheit ins Bewusstsein auch der westlichen Kirchen rückten und inzwischen zu einem unausweichlichen Thema christlicher Schöpfungstheologie machen. Diese kann sich an der Schwelle zum dritten Jahrtausend nicht mehr unabhängig vom welt­weiten Dialog der Kirchen und Religionen artikulieren. Nicht zufällig hat deshalb Papst Franziskus in seinen beiden Lehrschreiben Laudato si’ und Querida Amazonia den Dialog mit Vertretern nicht-katholischer Kirchen und nicht-christlicher Religionen gesucht.

Letzten Endes geht es Franziskus um eine „ganzheitliche“ Wahrneh­mung von Welt und Mensch – und um ein dieser ganzheitlichen Sicht angemessenes Verhalten. Hieran mitzuwirken sind alle Menschen aufgerufen. Den Angehörigen der verschiedenen Religionen kommt dabei eine besondere Verantwortung zu; denn sie schöpfen aus Über­lieferungen, die einen respektvollen Umgang mit der Schöpfung grundlegen. Der Papst plädiert deshalb für eine „ökologische Spiritua­lität“ (LS 216) und eine Schöpfungsmystik, die von der Überzeugung getragen ist, dass in der Welt „alles mit allem“ verwoben ist (LS 42). Mensch und Natur stehen einander nicht unverbunden gegenüber; vielmehr ist der Mensch zutiefst in die Bedingungen seiner leiblichen Existenz und in die Determinanten seiner sozialen, kulturellen und religiösen Identität hinein verwoben. Religiöse Menschen verstehen ihre Existenz eingeborgen in eine sie und die Welt im Ganzen umgrei­fende Wirklichkeit. Von daher legt sich ihnen ein einfühlsamer Umgang mit den Gaben der Schöpfung nahe, der deren Eigenwert respektiert und schützt. Frucht dieses Umgangs ist nicht nur die Solidarität mit allen Not leidenden Menschen auf unserem Globus, sondern auch ein Handeln in Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen.