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„Charismen leben – Kirche sein“

Ein Blick auf die lokale Kirchenentwicklung im Bistum Hildesheim aus der Perspektive des kfd-Bewusstseins-bildungsprozesses

Die ehemalige Bundesvorsitzende der kfd, Magdalena Bogner, beschreibt Konvergenzen zwischen dem Prozess „Charismen leben – Kirche sein“ der Kath. Frauengemeinschaft Deutschlands (kfd) und den Prozessen lokaler Kirchenentwicklung im Bistum Hildesheim, formuliert aber auch kritische Anfragen an das von Hennecke dargelegte Konzept.

Mit großer Sympathie nehme ich die Darstellung und die Überlegungen zur Kirchenentwicklung im Bistum Hildesheim wahr: Der pastoral­theo­lo­gische Ansatz und die ersten Schritte wecken unmittelbare Assozia­tionen zu den grundsätzlichen Überlegungen, zum theologischen An­satz und zu den Schritten des Bewusstseinsbildungsprozesses „Charis­men leben – Kirche sein“, für den sich die Katholische Frauengemein­schaft Deutschlands (kfd) 2005 entschieden hatte und der sich ab 2006 auf breiter Ebene im Verband entfalten sollte (vgl. kfd-Bewusstseins­bildungs-Prozess).

1. Zum Hintergrund des Prozesses

Einige Vorbemerkungen zur kfd: Sie versteht sich als kirchlicher Frauen­verband mit derzeit ca. 570.000 Mitgliedern, die sich ausdrücklich zu einer „Gemeinschaft in der Nachfolge Jesu Christi“ zählen und „am Dienst der Kirche verantwortlich teilnehmen“ wollen, so formuliert es die Präambel der Verbandssatzung (vgl. Satzung der kfd, 2). Die kfd ist in 21 Diözesen Deutschlands in mehr ca. 5.700 Pfarreien vertreten und lehnt sich in ihren Verbandsstrukturen an die kirchlichen Gliede­rungs­strukturen an. Im Jahr 1999 hatten die fast 400 Delegierten aus allen Diözesanverbänden im programmatischen Beschluss der „Leitlinien ’99“ die Zulassung von Frauen zu allen Diensten und Ämtern gefordert. Nach Aufforderung der Deutschen Bischofskonferenz, diese Forderung zu ändern, da sie kirchlicher Lehre widerspreche, setzte im Verband eine intensive Diskussion ein, die wegführte von der Zuspitzung auf die Ämterfrage hin zu den Fragen: Was braucht unsere Kirche heute, wenn die Botschaft Jesu Christi alle Menschen erreichen soll? Was können und müssen Frauen mit ihren spezifischen Begabungen dazu beitragen?

2. Das kfd-Projekt und seine Entwicklung

Auf dieser Grundlage entwickelte sich von neuem eine Schärfung des Bewusstseins, den Verband als „Lebensraum Kirche“ zu verstehen mit dem Ziel, Frauen zu stärken, ihre Charismen zu entdecken, zu entfalten und selbstbewusst in Kirche und Gesellschaft einzubringen. Ausdrück­lich wurde die Zielrichtung verändert: Ziel war nicht mehr einzig eine Forderung nach außen, sondern ein bewusster Blick auf den eigenen Standort, das eigene Bewusstsein christlicher Existenz. Logischerweise verstand sich deshalb das auf mehrere Jahre hin angelegte Projekt als Bewusstseinsbildungs-Prozess, der dem Dreischritt „sehen - urteilen – handeln“ folgen sollte. Mit Hilfe von neu erstellten Arbeitsmaterialien und durch Befähigung von Mitarbeiterinnen sollten Frauen ermutigt und dafür geöffnet werden, von den Möglichkeiten, aber auch von den Grenzen zu sprechen, die sie erfahren, wenn sie sich ihrer durch die Taufe aufgetragenen Berufung bewusst werden.

Dieser Bewusstseinsbildungsprozess war breit angelegt, d.h. die Gesprä­che sollten in allen kfd-Basisgruppen geführt werden. Er zielte darauf ab, von neuem die Bedeutung von Taufe und Firmung in den Frauen zu wecken, daraus Rückschlüsse zu ziehen für ein neues Bewusstsein von Kirche und selbstbewusst wahrzunehmen, was der Entfaltung kirchli­chen Lebens dient.

So wurden Frauen in dieser ersten Prozessphase auf der Pfarrebene dazu angeregt, ihre eigenen Fähigkeiten und Talente zu sehen, diese zu wür­di­gen, sie auch in Worte zu fassen und sich damit ihrer Charismen (der von Gott geschenkten Gaben und Fähigkeiten) bewusst zu werden. Da­bei wurde offensichtlich, dass sie an Grenzen stießen, die unüberwind­bar schienen: persönliche, aber auch institutionelle und strukturelle.

Die erste Phase wurde abgeschlossen mit zwei wissenschaftlichen Un­ter­suchungen, basierend auf einer quantitativen und einer qualitativen Umfrage. Diese repräsentativen Erhebungen hatten das Ziel, kirchliche Erfahrungen von Frauen zu erheben und sowohl Entwicklung wie Refle­xionsgrad der Bewusstseinsbildung anzufragen. Die Auswertung der repräsentativen Erhebungen leiteten über zur zweiten Phase, der des Urteilens: Aus der Perspektive verschiedener theologischer Disziplinen wurden Herausforderungen für die künftige kfd-Arbeit als Kirche, als Gemeinschaft der Getauften, formuliert. Es wurden Möglichkeiten aus­gelotet, die Vielfalt der Charismen von Frauen zu fördern und bestehen­de Hindernisse zu überwinden. Die gewonnen Erkenntnisse mündeten in Handlungsoptionen für gesamtkirchliche Entwicklungsschritte, die schließlich in der dritten Phase des Bewusstseinsbildungs-Prozesses konkretisiert und umgesetzt werden sollten. Eine Veranstaltung unter dem Titel „Aufbruch ins Handeln“ im Februar 2008 in Mainz setzte den Beginn dieser Umsetzungsphase von Handlungsoptionen. Sie sollten helfen, basierend auf einer neu entwickelten Verantwortlichkeit der in Taufe und Firmung erhaltenen Zusagen, auch die Gestaltungs- und Mit­wirkungsmöglichkeiten von Frauen in der Kirche zu verbessern. Dazu sollte besonders der Dialog mit anderen, vor allem Kirchenverant­wort­lichen in den Diözesen und auf Ebene der Bischofskonferenz gesucht werden. Ein neues Bewusstsein von Kirchlichkeit leben zu können – das war die Perspektive (vgl. Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands 2008).

3. Die gemeinsamen Ansätze

„Innere Kirchenentwicklung“ lese ich als entscheidendes Stichwort in Christian Henneckes Beitrag zu „lokaler Kirchenentwicklung im Bistum Hildesheim“. Dieses trifft die Absicht des genannten kfd-Prozesses. Die Frauengemeinschaften vor Ort, aber auch die kfd als Verband sind eige­ner Ort des Kircheseins: Hier leben Frauen in Gemeinschaft die Bot­schaft des Evangeliums und lassen sich ein auf „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst“ der Menschen, die mit ihnen in naher oder ferner Verbundenheit leben. Hier teilen sie nicht nur ihre Glaubenserfahrun­gen, die immer auch Lebenserfahrungen sind, sondern suchen gemein­sam danach, an der Seite derer aufzutauchen, die der Unterstützung, der Begleitung, Beratung oder Anwaltschaft bedürfen. Das geschieht auf vielfältige Weise: z. B. im Einsatz für gerechte Lebens- und Arbeitsbe­din­­gun­gen von Frauen, im verantwortlichen Handeln gegenüber denen, die als Fremde in unser Land kommen, in der Begleitung von Pflegebe­dürftigen oder Frauen, denen Gewalt angetan wurde.

Wenn Christian Hennecke als Ziel der lokalen Kirchenentwicklung die Prägung und Konturierung des Taufbewusstseins nennt, dann stimmt dies überein mit dem Ziel, das sich die kfd in ihrem Prozess „Charismen leben – Kirche sein“ gesetzt hat. So wurde in den einzelnen kfd-Grup­pen ganz zu Beginn des Prozesses zur Refle­­xion über die eigene Taufe und Firmung herausgefordert: Es sollte darum gehen, die Zusage, die diese Sakramente zu gelingendem Leben geben, neu zu verstehen und anzunehmen, damit jede einzelne Frau und die Gemeinschaft als ganze dem sich daraus ergebenden Auftrag zu einem Leben, das aus dem Ge­schenk der Hoffnung und Liebe lebt, gerecht werden kann. Diese Re­flexion der Taufwürde ist zugleich Entfaltung des gemeinsamen Pries­tertums, in dem sich das Wesen des Kircheseins in seinen Grundvoll­zügen von Verkündigung, Dienst am Nächsten und Gottes-Dienst voll­zieht. Im Bewusstsein der Taufe zu leben heißt: sich dem Leben in Auf­merksamkeit zuzuwenden, heißt: einzuüben, das Leben gleichsam mit den Augen Gottes zu sehen, so wie es in der Tradition christlichen Glau­benslebens viele Frauen und Männer vorgelebt haben. Im Bewusstsein der Taufe zu leben heißt auch, die eigenen Gaben und Fähigkeiten als Geschenk anzunehmen, nicht zur Steigerung eigenen Ansehens, son­dern sie zu verstehen als etwas, das den Menschen zugute kommt, das der Gemeinschaft dient und von ihr wertgeschätzt und gefördert wird. Im Bewusstsein der Taufe zu leben bedeutet, mit hoher Sensibilität hin­zusehen, was Menschen brauchen, zuzuhören, was Men­schen bewegt, sich hineinzufühlen in ihre Lebenserfahrungen und eine Sprache zu sprechen, die sie verstehen können. Ob dieser Anspruch im Alltag im­mer bewusst ist und versucht wird zu leben, ist durchaus kri­tisch anzu­fragen. Vermutlich bedarf es dazu noch besserer Vernetzung mit vielen kirchlichen Akteuren, der Stärkung durch kirchliche Lei­tungsver­ant­wortliche oder vertiefter spiritueller Reflexion und Praxis.

4. Gelebte Charismen verändern Kirche

Die eigenen Charismen zu entdecken, sie wahrzunehmen und zu leben, das zeichnet das Bild von Kirche aus, wie sie tatsächlich sein soll. Nur so kann zum Tragen kommen, was Kirche allen Menschen sein soll. Das war die Grundüberzeugung, aus der heraus der Prozess der kfd entstan­den war. Das verstehe ich in den Ausführungen von Hennecke als Grund­­lage für eine Kirchenentwicklung, die zukunftsfähig ist und aus dem Geist des Evangeliums wächst. Doch mir scheinen einige kritische Punkte anmerkenswert.

„Umfassende Bewusstseinsprozesse müssen für alle Glieder des Gottes­volkes gewagt werden“, so Hennecke. Verlangt nicht der skizzierte Be­wusstseinsprozess einen gewissen Gleichschritt bei den verschiedenen Gliedern des Gottesvolkes? Ich nehme wahr, dass der Aufbruch inner­halb der kfd vor einigen Jahren über die Grenzen des Verbandes hinaus viel zu wenig eingebettet werden konnte in eine gesamtkirchliche Be­we­gung. So versandete manch gute Quelle wieder. Leitungsverantwort­liche – wo immer sie tätig sind, ob auf örtlicher oder überörtlicher Ebene – können ihrer Leitungsverantwortung nur gerecht werden, wenn sie sich selbst einem solchen Bewusstwerdungsprozess aussetzen und es als ihre Leitungsaufgabe ansehen, aus einer hörenden Haltung heraus Charismen zu entdecken und zum Tragen kommen zu lassen. Das bedeutet: Die Förderung und Verknüpfung von Charismen als herausragende Leitungsaufgabe ist ein eigenes Charisma. Kommt es immer zum Tragen oder ist es wirklich allen Leitungsverantwortlichen geschenkt? Die Rolle von Priestern und allen kirchlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen ist damit angefragt. Denn der Dienst an den Diensten bedeutet vor allem, sich überraschen zu lassen von dem, was Gottes Geist seinem Volk schenkt – auch zumutet – und entsprechend zu handeln. Können derzeitige (oder auch manche neu geplante) kirchliche Strukturen dies auch wirklich zum Tragen kommen lassen?

Wenn alle Glieder des Gottesvolkes lernen, die in Taufe und Firmung geschenkten Charismen zu entdecken und zu leben, dann verlangt dies auch, sie sich gegenseitig zuzusprechen, sie einander zu „gönnen“ und sich selbst immer wieder neu kritisch anzufragen, aus welchem Grund heraus die jeweilige Tätigkeit geschieht. Es bedeutet, Konkurrenz­ver­hal­ten einzutauschen gegen Vertrauen in das Wirken göttlichen Geistes. Es bedeutet, wachsam und mutig Entgleisungen beim Namen zu nen­nen und einander zu bestärken, dem Ruf Gottes treu zu sein. Denn es gilt mit selbstbewusstem Blick alles wahrzunehmen, was der Entfaltung der Gemeinde dient. Und es stellt die Verantwortlichen vor die Heraus­­forderung, neue Formen und Arten von Beauftragung zu suchen und zu geben. So ist das ganze Gottesvolk herausgefordert, sich einem Wandel weg von der Versorgermentalität hin zur Eigenverantwortlichkeit zu stellen. Stößt dies aber nicht an Grenzen der Organisierbarkeit?

Der derzeitige Dialogprozess in unserer deutschen Kirche möge sich weiterentwickeln aus dieser Haltung der gegenseitigen Wahrnehmung, des Vertrauens in die Zumutungen und Geschenke Gottes und aus der Gewissheit, dass Gott seiner Kirche zu jeder Zeit die Charismen schenkt, die sie braucht. Vielleicht konstatieren wir Mangel, wo es gar keinen gibt, und übersehen unsere wirklichen Defizite.