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Weltkirche ist auch hier!

Anmerkungen zu einer Tagung zu pentekostalen Bewegungen

Das Aufblühen neopentekostaler und charismatischer Bewegungen in Latein­amerika, Afrika und Asien ist für die dortigen Kirchen eine der größten derzeitigen Herausforderungen. Eine Tagung der Deutschen Bischofskonfe­renz in Rom befasste sich jetzt mit diesem Phänomen und brachte dazu ein eigenes Forschungsprojekt in den internationalen Diskurs. Die Entwicklun­gen in Übersee stellen aber auch an die Kirche in Deutschland vielfältige Anfragen.

„Evangelikale – Pfingstkirchen – Charismatiker. Neue Religiöse Bewe­gun­gen als Herausforderung für die katholische Kirche“: So war eine Tagung überschrieben, zu der die Deutsche Bischofskonferenz vom 9. bis 11. April 2013 nach Rom eingeladen hatte. Um was ging es?

Vielleicht ist es am besten, zuerst einmal – um möglichen Missver­ständ­nissen angesichts des Titels vorzubeugen – zu sagen, um was es nicht ging. Es ging nicht um Neue Religiöse Bewegungen (NRB) generell – neohinduistische Gruppen waren ebenso wenig im Fokus der Tagung wie etwa UFO-Sekten oder Neuheiden. Und innerhalb des christlichen Spektrums konzentrierte sich die Konferenz ganz klar auf pfingstlich-charismatische Strömungen außerhalb und innerhalb der herkömm­lichen Kirchen.

Das wurde für den Beobachter – leider erst – im Laufe der Konferenz deutlich. Wünschenswert wäre eine terminologische Klärung gleich zu Beginn der Tagung gewesen. Erst im weiteren Verlauf holten das einige der Referenten en passant ein wenig nach: Philip Jenkins wies auf das breite Spektrum an NRBs hin, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen „evangelikal“ und „pentekostal“ thematisierte Detlef Pollack, und im Schlussreferat referierte Kardinal Koch die drei Wellen des Pentekostalismus.

Gerade die dritte Welle – der Neopentekostalismus – ist es, die (zusam­men mit der zweiten Welle, den charismatischen Aufbrüchen innerhalb nicht-pfingstlerischer Kirchen) die Teilnehmer umtreibt. Etwa 80 waren nach Rom gekommen – zu einer wirklich internationalen, hochkaräti­gen Tagung: Bischöfe, Pastoralentwickler, Sozialexperten, in den Berei­chen Weltkirche, Ökumene und Mission Tätige etc., die nur zu einem kleinen Teil aus Deutschland oder Europa stammten. Und natürlich auch einige der Beteiligten am Forschungsprojekt, das der Tagung zugrunde lag.

Bereits in den 1990er Jahren war sich die Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz dessen bewusst, dass religiöse Neuauf­brü­che in Lateinamerika, Afrika und Asien eine Herausforderung für die katholische Kirche darstellen. In ihrem Auftrag begann die Wissen­schaft­liche Arbeitsgruppe der Kommission mit einem Forschungspro­jekt, dessen Kern vier exemplarische Länderstudien bilden, die (zusam­men mit einer vorbereitenden Literaturstudie) von 1995 bis 2012 er­schie­nen: für Lateinamerika zu Costa Rica, für Afrika zu Südafrika, für Asien zu den Philippinen und für Europa und Nordamerika zu Ungarn. Der Wunsch, die Erkenntnisse aus diesen vier Studien einem größeren Publikum vorzustellen, zu diskutieren und weltkirchlich fruchtbar zu machen, führte zur Konferenz in Rom.

Das Phänomen, das bei diesem globalen Blick auf die Entwicklungen im Christentum am meisten ins Auge fällt, ist das teilweise geradezu explo­sionsartige Aufblühen von pfingstlichen Strömungen. Südamerika z. B. ist nicht mehr der geschlossen katholische Kontinent, sondern plurali­siert sich religiös in raschem Tempo. In Afrika hat die traditionelle, stark magisch geprägte Religiosität in Pfingstkirchen einen neuen Lebens­raum gewonnen. Auf den Philippinen ist nicht so sehr das Entstehen von protestantischen Pfingstkirchen auffällig, sondern vielmehr die Tatsache, dass innerhalb der katholischen Kirche mittlerweile 15 % der Mitglieder Charismatiker sind – und viele, die nicht charismatischen Gruppen angehören, ebenfalls eine charismatische Religiosität auf­weisen.

Hier wird schon sichtbar, dass sich die Pentekostalisierung des Christen­tums unterschiedlich gestalten kann. So können auch die vier Länder­studien nur punktuelle Einblicke geben und nicht wirklich für jeweils einen ganzen Kontinent stehen. Geschickt haben es die Planer der Kon­ferenz verstanden, diese Erkenntnisbasis zu erweitern und ganz unter­schiedliche Erfahrungen zusammenzuführen: zum einen durch die Teilnehmenden, die aus einer Fülle von Ländern kamen, zum anderen durch die Auswahl der Referate und der Referenten: Nachdem der Münsteraner Theologe und Soziologe Karl Gabriel bereits am ersten Tag einen Überblick über die vier Länderstudien gegeben hatte, stand der zweite Tag ganz im Zeichen von Vorträgen zu den vier in den Studien behandelten Weltgegenden, die durch Korreferate von Bischöfen aus der jeweiligen Region ergänzt wurden.

So wurden bei der Tagung trotz aller regionalen und nationalen Unter­schiede gemeinsame Gegebenheiten und Entwicklungen im pentekosta­len Feld sowie in den sich daraus ergebenden kirchlichen Heraus­forde­rungen deutlich. Nur einiges davon kann hier kurz und stark verallge­meinernd genannt werden:

  • Frauen kommt in diesen pfingstlich-charismatischen Gemeinden und Kirchen eine beson­dere Rolle zu. Nicht, weil sie dort überall in gleichberechtigter Weise Führungspositionen übernehmen könnten. Aber sie zeigen sich nicht nur be­son­ders aufgeschlossen für charismatische Formen, auch sind sie meist für die Kinder die primären Glaubensvermittler. Zudem sind strenge ethische Vorga­ben, die dort vermittelt werden – z. B. kein Alkohol, keine außerehelichen Beziehungen, Familienorientierung –, für sie attraktiv, weil sich dadurch die soziale Lage ihrer Familien verbessern kann. Das „empowerment“, das Frauen in diesen Pfingstgemeinden erfahren, ist eine starke Kraft gegen den gerade in Lateinamerika immer noch allgegenwärtigen „machismo“.
  • So sind Frauen es oftmals, die ihre Männer zu der neuen Gemeinde mitbringen. Auch sonst spielt Mission eine wesentliche Rolle für den Neopentekostalismus: Alle (!) sind dazu aufgerufen, neue Mitglieder zu gewinnen. Dieser missionari­sche Impetus trifft gerade auch Christen anderer Kirchen.
  • Der Aufbau eigener Radio- und Fernsehstationen, die große Rolle mitreißender Musik und die Showmaster-Qualitäten der Gemeindeleiter zeigen: Neopente­kostales Christentum ist auf breite Wirkung hin angelegt. So gehen auch die Expansionsbestrebungen einzelner Pfingstkirchen über den Heimatkontinent hinaus und erreichen auch Europa. In anderer Weise zeigte sich pentekostale „Breitenwirkung“ in einigen Staaten Westafrikas: Als dort Pfingstler an die Macht kamen, zogen pentekostale Denkmuster in teilweise hochproblemati­scher Weise in die Politik ein.
  • Der Neopentekostalismus wird durch (Binnen-)Migration und Urbanisierung im Gefolge der Globalisierung begünstigt: Megacitys wie São Paulo und Lagos sind religiös hochdynamische Hotspots, führen sie doch Millionen arbeitssuchende Menschen zusammen, die dem sozialen und religiösen Gefüge ihrer Heimat entrissen sind.
  • Hier liegt eine besondere Stärke neupfingstlerisch-charismatischer Religiosität: Sie gibt eine Antwort auf die soziale (Not-)Lage dieser Menschen. Zum einen bie­tet sie eine religiöse und soziale Heimat, gerade auch durch das Netz an Klein­gruppen mit regelmäßigen Treffen, das die großen gottesdienstlichen Versammlungen flankiert, und durch klare ethische Vorgaben. Zum anderen verheißt sie in enthusiastischer Weise Gottes Hilfe – auch in ganz konkreten, materiellen Sorgen. Die Botschaft lautet: Gott will nicht, dass ihr in eurer Not verbleibt. Diese Aufstiegsorientierung erklärt auch, weswegen der Neopente­kosta­lismus nicht nur prekäre Schichten, sondern auch die Mittelschicht er­reichen kann.
  • Diese Pfingstkirchen greifen als auto­chthone Gründungen auch vielfach au­toch­thone, nicht spezifisch christliche Kulturelemente auf. Die Attraktivität durch Inkulturation ist dann aber teilweise durch synkretistische Vermischung er­kauft, etwa bei der Aufnahme traditioneller magischer Vorstellungen in Afrika.
  • Gerade in Lateinamerika wird deutlich: Die einstige Monopolstellung der katho­lischen Kirche existiert nicht mehr, sie ist nun einem religiösen Markt ausge­setzt – und darauf nicht vorbereitet. Pentekostale können dort insbesondere durch das gute Betreuungsverhältnis punkten, während in der katholischen Kirche Pfarreien mit 50.000 und mehr Mitgliedern bei einer priesterzentrierten Seelsorge zur Anonymität verurteilt sind.

Die Dynamik und Stärke der (neo-)pentekostalen Bewegung ist aller­dings auch mit Aspekten verbunden, die man nicht nur aus katholischer Perspektive kritisch sehen wird: Wie bereits erwähnt, integrieren viele afrikanische Pfingstkirchen den traditionellen Magie- und Geisterglau­ben, der damit zum einen als Erklärungsmodell für alle möglichen Not­la­gen dienen muss, zum anderen aber dann durch die Praktiken der Pre­diger (Exorzismen …) bekämpft wird. Vielleicht noch mehr wird ein christliches Gottes- und Menschenbild verzerrt durch den „prosperity gospel“, die Verkündigung einer „Wohlstandstheologie“, die alle mögli­chen immateriellen und materiellen Güter (auch Häuser, Autos, Babys, Heilungen) dem verspricht, der nur genügend glaubt. Die Osnabrücker systematische Theologin und Lateinamerikaexpertin Margit Eckholt wies bei der Tagung darauf hin, dass Pfingstkirchen, die dies lehren, damit letztlich unhinterfragt kapitalistischen Denkmustern hinter­herlaufen und so einer Entsolidarisierung Vorschub leisten.

Doch das notwendige Aufzeigen von problematischen Entwicklungen bei anderen sollte nicht dazu führen, die eigenen Fehler zu übersehen. „Die Kirche hat immer die Sekten, die sie verdient“, bemerkte bei der Tagung der Religions- und Weltanschauungsexperte Michael Fuß. Und die Bereitschaft der Tagungsteilnehmer, sich an die eigene Brust zu klop­fen, war deutlich spürbar. In den Stärken der Pfingstkirchen er­kennt die katholische Kirche ihre eigenen Schwächen. Wiederholt wur­de bei der Konferenz aber auch zugegeben, dass bisher auch schon die grundlegende Aufgabe vernachlässigt wurde, diese religiösen Umbrü­che erst einmal wissenschaftlich zu erfassen und die pastoralen Heraus­forderungen zu identifizieren.

Für wen war diese Tagung gedacht? Sie verstand sich – so war zu hören – als einen Dienst der Deutschen Bischofskonferenz für die Weltkirche: für die Bischöfe, pastoralen Fachleute etc., die in ihren Heimatländern mit dem explosionsartigen Aufblühen pfingstlerisch-charismatischer Bewegungen konfrontiert sind.

Europa stellt demgegenüber einen „Sonderfall“ dar, wie die Religions­sozio­logen José Casanova und Detlef Pollack betonten: Die Säkulari­sie­rung schlägt sich hier wesentlich in einer Entkirchlichung nieder, und – immer noch eine Nachwirkung des konfessionellen Zeitalters in Europa – der religiöse Markt ist durch die Dominanz der großen Kirchen be­grenzt. Charismatiker und Pfingstler spielen in Ländern wie Deutsch­land nur eine eher marginale Rolle.

Dennoch: So ganz unbetroffen sind wir hierzulande nicht von den Ent­wicklungen in anderen Erdteilen. Die katholische Kirche in Deutschland ist Teil der Weltkirche, und mehr noch: Deutschland ist Teil der globali­sier­ten Welt.

Das zeigt sich vielleicht am auffälligsten in Migrantengemeinden, die mit charismatischen und neopentekostalen Formen Afrikanern, Latein­amerikanern etc. Beheimatung bieten. Inwieweit der missionarische Impetus dieser Gemeinden – die ja wesentlich davon leben, dass sie ein Stück weit Heimatkultur nach Deutschland verpflanzen – auch bei der angestammten Bevölkerung hierzulande greift, ist eine andere Frage. Aber solche direkten missionarischen Erfolge sind für die weitere Ver­breitung (neo-)pentekostaler Formen auch nicht unbedingt nötig. Glo­balisierung bedeutet nämlich auch informationelle Vernetzung und den weltweiten raschen Austausch von Ideen, Formen und Ästhetiken durch moderne Medien. Dass dabei nicht nur die Grenzen von Ländern und Kontinenten, sondern auch religiöse Grenzen übersprungen werden, gilt gerade für das Pfingstlertum, das – aus dem protestantischen Raum stammend – spätestens durch das Entstehen der charismatischen Bewe­gung in der katholischen Kirche diese Fähigkeit bewiesen hat. Mittler­weile hört man sogar davon, dass pfingstliche Religiosität für manche Hindus und Muslime attraktiv ist.

Das macht deutlich: Bei dieser grenzüberschreitenden Ausbreitung religiöser Strö­mungen spielen offenbar dogmatische Fragen nicht die entscheidende Rolle. Wesentlich ist, durch die Adaption dieser Strö­mungen eine Antwort auf Bedürfnislagen geben zu können. Dabei bedient eine Strömung wie der Pentekostalismus (andere Strömungen wären z. B. Traditionalismus, Evangelikalismus und Liberalismus) ganz unterschiedliche Bedürfnisse: soziale, materielle, spirituelle, emotio­nale, ästhetische …

Wer also z. B. in Brasilien sich als Katholik einer neopentekostalen Kir­che anschließt, den haben vielleicht weniger Glaubensfragen, sondern eine Sehnsucht nach emotionaler, charismatischer Ansprache und mit­reißender Gemeinschaft dorthin geführt, den begeistert die Musik, den spricht die Ästhetik des Kirchenraums an etc.

Diese „weichen“ Faktoren spielen wohl eine wichtigere Rolle, als wir oftmals denken – und das gilt gerade in unserem säkularen Zeitalter. Säkularisierung bedeutet nämlich nicht nur steigende Kirchenaustritte, sondern zuerst einmal eine Emanzipierung des Staats und der Gesell­schaft von Religion – und damit die Freiheit des Einzelnen, sein religiö­ses Leben unabhängig von obrigkeitlichem Zwang und individuell zu gestalten. Somit ist auch der „harte“ Faktor Orthodoxie (im Sinne von dogmatischer Wahrheit) gerade für religiöse „Laien“ nur ein möglicher Faktor bei der Wahl der eigenen religiösen Heimat – da mögen religiöse Autoritäten noch so sehr das Gegenteil betonen! Dieses Zurücktreten des Faktors Orthodoxie gegenüber anderen Faktoren relativiert aber bisherige Grenzziehungen zwischen den Religionen und erleichtert die Übernahme von Formen und Elementen aus anderen religiösen Kon­texten.

Das gilt auch für Deutschland und die hiesige katholische Kirche. Die relativ bescheidene Mitgliederzahl der CE (Charismatische Erneuerung in der katholischen Kirche) bedeutet nicht, dass Katholiken nicht auch anderswo ihren Glauben in charismatischen Formen leben – und sei es auch nur punktuell. Enthusiastische gemeinschaftliche Glaubenserfah­rungen bieten etwa auch Veranstaltungen wie der Weltjugendtag 2005 in Köln. Man findet weiterhin vereinzelt Katholiken als Mitarbeiter in sog. Healingrooms: von Christen betriebene Orte, wohin Menschen kom­men können, um für sich um Heilung beten zu lassen – eine Bewe­gung, die eigentlich aus dem evangelikalen/pfingstlichen Raum stammt. Andere nehmen an Heilungsexerzitien teil, die charismatische Einzelgestalten leiten. Pfingstliche Kernelemente wie die Suche nach möglichst unmittelbarer Erfahrung Gottes und intensivem Glaubens­leben in Gemeinschaft, verbunden mit dem Drang zur offensiven Weitergabe des Glaubens, manifestieren sich auch in nicht dezidiert charismatischen kirchlichen Strömungen.

In diesen religions- und konfessionsübergreifenden Strömungen, im Aufblühen pentekostaler Formen in der außereuropäischen Weltkirche zeigen sich menschliche Grundbedürfnisse und globale Trends, die damit auch an die katholische Kirche im „beschaulichen“ Deutschland Anfragen stellen.

Eine grundsätzliche Frage ließe sich so formulieren: Was hat die Kirche zu bieten? Oder anders formuliert: Wie positioniert sie sich auf dem religiösen Markt? Gerade am Beispiel Lateinamerika wird deutlich: Die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche ist nicht mehr selbstver­ständ­lich, sondern steht in der freien Entscheidung des Einzelnen. Unsere Pfarreien sind aber nach wie vor auf Versorgung, nicht auf Einladung ausgerichtet.

Weitere Anfragen an die katholische Kirche in Deutschland heute, die sich zwar auch auf andere Weise erschließen, aber durch die Erkennt­nisse des Forschungsprojekts bzw. der Tagung in zugespitzter Weise aufdrängen, sind u. a.:

  • Sind wir bereit, auch mit anderen als den klassischen ökumenischen Partnern (Mainstreamprotestanten, Orthodoxe …) in einen Dialog einzutreten? Gerade mit den ganz jungen pentekostalen Gemeinden sind wir mit christ­lichen Grup­pen konfrontiert, die auch über die Arbeit der ACK (Arbeitsgemeinschaft Christ­licher Kirchen) kaum zu erreichen sind.
  • Weiterhin: Wie gehen wir mit neuen, ungewohnten (z. B. pentekostalen) Strö­mungen, Ästhetiken, Glaubensformen innerhalb der Kirche um? Vorsichtig, abgrenzend, einladend, integrierend?
  • In verschärfter Weise stellt sich diese Frage bei Menschen, die die zunehmende Durchlässigkeit von Grenzen leben: die sich nicht nur im kirchlichen Binnen­raum bewegen, sondern auch spirituelle Angebote außerhalb abwechselnd oder gleichzeitig wahrnehmen? Solche Grenzgänge sind eng mit den konfessions- und religionsübergreifenden Strömungen verknüpft: Einem Charismatiker innerhalb einer herkömmlichen Kirche steht vielleicht (zumindest emotional) der Gottesdienst in einer freikirchlichen Pfingstgemeinde näher als die tradi­tionelle Liturgie der eigenen Kirche. Grenzgänger sind heute keine Seltenheit mehr; Menschen nehmen sich in aller Radikalität und Unverbindlichkeit die Freiheit dazu. Herkömmliche Denkmodelle von Zugehörigkeit sind damit allerdings auf den Kopf gestellt.
  • Wie gesagt, stehen hinter dieser individuellen Suche nach religiös-spiritueller Beheimatung individuelle Bedürfnisse. Der Pentekostalismus bietet Antwort auf teilweise existentielle Fragen der Menschen, die der katholischen Kirche keineswegs fremd sind, die dort aber in den Hintergrund gerückt sind. Wenn die katholische Pastoral Themen wie Emotionalität, spirituelle Erfahrungen, Heil und Heilung vernachlässigt, übersieht sie wesentliche Dimensionen religiösen Lebens. Und bewirkt weniger, dass Menschen diese Bedürfnisse zurückstellen, sondern vielmehr, dass sie diesen Bedürfnissen andernorts nachgehen und sich dabei oftmals christlichem Glauben entfremden.
  • Damit verbunden ist die Frage nach der Verbindung von Glaube und Leben – oder noch verschärft: von Glaube und Alltag. Die Neopentekostalen in Übersee punkten gerade auch mit ihren ganz konkreten (auch materiellen) Verheißun­gen für den Alltag (prosperity gospel). Auch wenn man sich dem aus Gründen der Theologie und eines nüchternen Realitätssinns nicht anschließen will, so bleibt dennoch die Frage, wie Religion – überspitzt formuliert – über den Sonntagsgottesdienst hinaus eine Rolle im Leben spielen kann. Vielleicht hilft hier der Begriff des „empowerment“ ein Stück weiter: Wie ermutigt und – noch mehr – ermächtigt der Glaube, sein (alltägliches) Leben zusammen mit Gott selbst in die Hand zu nehmen?
  • Der Pentekostalismus stellt uns aber nicht nur bezogen auf bestimmte spiritu­elle Formen eine neue Weise des Kircheseins vor Augen; er stellt auch unsere gewohnten Formen gemeindlichen Lebens in Frage. Zwar sind auch Pfingstge­meinden mit ihren charismatischen Führungspersönlichkeiten hierarchische Strukturen nicht fremd. Doch statt auf priesterzentrierte Territorialgemeinden setzen sie auf kleinräumige Strukturen mit viel persönlicher Begegnung – und auf Ermächtigung des Einzelnen, auch zur Glaubensverkündigung ad extra. Gewiss: Dies hat seine Basis in Mitgliedern, die in diese neuen Pfingstge­mein­den nicht hineingeboren worden sind, sondern sich bewusst angeschlossen haben und somit über eine ganz besondere Motivation verfügen. Das lässt sich keineswegs 1:1 auf unsere Volkskirchen übertragen. Doch es stellt Anfragen an die Rolle von Laien, insbesondere auch von Frauen.

So bleibt als Aufgabe die regionale/nationale Adaption der Erkenntnisse von Forschungsprojekt und Tagung – unter Berücksichtigung ganz un­terschiedlicher lokaler Ausprägungen weltweiter Entwicklungstrends. Das gilt auch – oder gerade – für ein Land wie Deutschland innerhalb des „Sonderfalls Europa“. Denn unter den besonderen europäischen Bedingungen – ich nenne hier einmal exemplarisch die Aufklärung, die konfessionelle Prägung des Kontinents und die fortgeschrittene Säkula­ri­sierung – schlagen sich globale Trends und menschliche Bedürfnis­la­gen, die wir auch auf anderen Kontinenten feststellen, vielleicht in be­sonderer, „außergewöhnlicher“ Weise nieder.

Konkret stellt sich die Frage: Könnte die „Esoterisierung“ – die zuneh­mende Ausbreitung esoterischer Praktiken und auch Denkweisen in die verschiedensten Lebensbereiche und den Alltag hinein – das europä­ische Pendant zur Pentekostalisierung in anderen Erdteilen darstellen? Ähnlichkeiten sind nicht zu übersehen – etwa die Betonung von unmit­telbarer Erfahrung und konkreter Wirkung (etwa in Heilungen) –, aber auch Unterschiede – etwa zwischen pfingstlerischer Gemeinschaft und esoterischen Netzwerkstrukturen. Gemeinsam ist aber die Sehnsucht nach einem Mehr, in Abgrenzung zu einem rationalistisch-nüchternen Weltbild.

Solchen Fragen lohnt es sich nachzugehen – eine Verbindung von welt­kirchlicher Arbeit und mehr national ausgerichteten Bereichen der Pastoral (etwa die Weltanschauungsarbeit) könnte hier fruchtbar sein.