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Lokale Kirchenentwicklung in der globalen Welt – ein Beitrag aus der Perspektive der Weltkirche

Lokalität bezieht ihre Dynamik aus der Spannung zur Globalität. Wie Lokale Kirchenentwicklung in einer Welt gestaltet wird, die immer stärker zusam­men­wächst, zeigt Michael Meyer von missio auf. Gerade die Kirche als welt­weiter global player kann eine Lerngemeinschaft sein.

1. Vom Evangelium

„Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15). Jesus beginnt mit diesem pro­gramma­­­ti­schen Satz sein öffentliches Wirken. Am Anfang seiner Sendung steht der Ruf zur Umkehr. Für die Gemeinschaft der Kirche ist dieser Satz in allen Bereichen bestimmend, denn die Verkündigung des Evangeliums beginnt mit der „Selbstevangelisierung“. Jede Erneuerung des christli­­chen Lebens muss sich kritisch mit dem richtungsweisenden Satz des Markusevangeliums auseinandersetzen. Alle Evangelisierung beginnt im eigenen Leben und in der Kirche vor Ort, denn dort gibt es „Diaspo­ra-Gebiete“ und „heidnisches Land“: „Es gibt Urwälder in uns, in die das Evangelium noch nicht vorgedrungen ist, ungetaufte Teilpersönlich­kei­ten, schier unzugängliche Sümpfe der Gefühle, Wüsten der geistlichen Trockenheit. So habe ich vor aller Evangelisierung der anderen den Blick immer zuerst auf das eigene Missionsland zu richten“ (Knapp 2013, 9).

2. Entwicklung heißt Umkehr!

Im Sinn der „Selbstevangelisierung“ stellt Regens Christian Hennecke im Werkstattbericht zum Modell der „Lokalen Kirchenentwicklung“ ehrlich fest: „Vor der Rede von der Lokalen Kirchenentwicklung stand ein Umkehrprozess“. Erst in der Einsicht zur Umkehr steckt das wirkli­che Potential, das die genannte Kirchenentwicklung ermöglicht. Die Umkehr besteht darin, vom „Ross“ der eigenen pastoralen Planung abzusteigen und sich den anderen zuzuwenden und auf sie zu hören. Der von Hennecke genannte „Umkehrprozess“ bezieht sich so auf die lange Geschichte des interekklesialen Lernens, des Entdeckens, des Ausprobierens, des Gesprächs und des Dialoges mit Partnern aus anderen Diözesen und Ländern. Dieser Prozess beinhaltet neben der Gesprächsbereitschaft auch den nüchternen und realistischen Blick auf die (pastorale) Wirklichkeit im eigenen Land und die erwähnte Bereit­schaft zum Verlassen von überkommenen Strukturen, die der Verkündi­gung des Evangeliums im Wege stehen oder sie sogar verhindern.

In der Perspektive der Weltkirche mag der Hinweis auf das Dokument von Aparecida verdeutlichen, dass der Entschluss zur Umkehr, d.h. zur „Selbstevangelisierung“, fundamental ist: „Ausnahmslos jede Gemein­schaft sollte sich mit all ihren Kräften entschieden auf den ständigen Prozess missionarischer Erneuerung einlassen und die morsch geworde­nen Strukturen, die der Weitergabe des Glaubens nicht mehr dienen, aufgeben.“ (DA 365). Papst Franziskus, der als Kardinal Jorge Mario Bergoglio federführend am Dokument von Aparecida mitgearbeitet hat, wies bei seiner ersten Auslandsreise anlässlich des Weltjugendtages im Juli 2013 in Brasilien darauf hin, dass die Kirche „in Bezug auf die Um­kehr in der Pastoral“ im Rückstand sei (Begegnung mit den Bischöfen und dem Koordinierungskomitee in Rio de Janeiro am 28.07.2013). Die „Lokale Kirchenentwicklung“ sucht genau in diesem Sinn neue Formen und Wege, um das Evangelium den Menschen zu verkünden. Welche Aspekte fallen dabei in der Perspektive der Universalkirche auf?

3. Globale Kirchenentwicklung

Zur Gründungsurkunde der „Lokalen Kirchenentwicklung“ gehört we­sent­lich die Vorgeschichte der Lerngemeinschaft der alle Kontinente umfassenden Kirche dazu. Die „lokale“ Kirchenentwicklung steht im Rahmen der „globalen“ – also der „weltweiten“ – Kirche. Dazu zählt Hennecke die Partnerschaft der Kirche Boliviens mit der Diözese Hildesheim und die vielfältigen Kontakte, die das Bistum Hildesheim über die Hilfswerke missio und Adveniat geknüpft hat. Es ist beein­dru­ckend, die Vielzahl der Länder und der damit verbundenen pastoralen Impulse zu sehen, die von der „Lokalen Kirchenentwicklung“ aufgegrif­fen werden. So steht der weite Horizont der pastoralen Erfahrung aus unterschiedlichen Ortskirchen entscheidend am Beginn der Entwick­lung des Begriffs der „Lokalen Kirchenentwicklung“. Ohne die Begeg­nung und ohne den direkten Kontakt mit der „globalen“ Kirche wären die für die „Lokale Kirchenentwicklung“ bedeutsamen Stichworte wie „Kleine Christliche Gemeinschaften“ (mit den konkreten Beispielen aus Singapur, Indien oder den Philippinen), den „Örtlichen Gemeinden“ (im Kontakt mit dem Erzbistum Poitiers in Frankreich) oder der „Spiritua­li­tät des Wortes Gottes“ (im Austausch mit der südafrikanischen Kirche) kaum vorstellbar. Die weltkirchliche Lerngemeinschaft ist eine Quelle der Inspiration und ein bereicherndes Forum des Austauschs für neue Ideen. Der weite Horizont ist jedoch nicht uferlos, sondern konkretisiert sich in der jeweiligen Ortskirche. Der Pastoraltheologe und Missions­wis­senschaftler Michael Sievernich SJ weist darauf hin, dass es in der pastoralen Planung eine enge Verbindung zwischen dem „Lokalen“ und dem „Globalen“ gibt. Die weltkirchliche Weggemeinschaft ist ein Netz­werk, das zusammenhängt und sich wechselseitig ergänzt: „Man kann die missionarische Aufgabe im eigenen Land nur dann mit der nötigen Schärfe wahrnehmen, wenn man sich auf das Andere seiner selbst ein­gelassen hat, also der missionarischen Weltkirche sehr viel mehr Auf­merksamkeit schenkt, nicht eskapistisch, sondern im wohlver­stan­de­nen Eigeninteresse.“ (Sievernich 2009, 341).

So geht es nicht um das einfache und simplifizierende Übertragen von pastoralen Modellen anderer Ortskirchen in die deutsche Wirklichkeit. Nein, es geht um die strukturelle Erneuerung, um einen viel tiefer liegenden ekklesiologischen Ansatz und die Bereitschaft zur „Mission“, d.h. zur „Selbstevangelisierung“ in der eigenen Ortskirche. Hier liegt der Punkt der Umkehr. Hier setzt die „Lokale Kirchenentwicklung“ an und schafft neue Akzente für den Pilgerweg des Volkes Gottes in der deutschen Ortskirche.

4. Taufwürde als Fundament und Prinzip

Als prägenden Punkt der „Lokalen Kirchenentwicklung“ ist dabei die sendungsorientierte Theologie der Taufe zu nennen. Die „Lokale Kir­chen­entwicklung“ rechnet mit dem Engagement eines jeden einzelnen, denn jeder Christ ist durch Taufe und Firmung Teil des Volkes Gottes, so wie es das letzte Konzil in der Kirchenkonstitution Lumen Gentium formuliert hat: „Eines ist also das auserwählte Volk Gottes: ‚Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe’ (Eph 4,5); gemeinsam die Würde der Glieder aus ihrer Wiedergeburt in Christus, gemeinsam die Gnade der Kindschaft, gemeinsam die Berufung zur Vollkommenheit, eines ist das Heil, eine die Hoffnung und ungeteilt die Liebe. Es ist also in Christus und in der Kirche keine Ungleichheit aufgrund von Rasse und Volkszugehörigkeit, sozialer Stellung oder Geschlecht“ (LG 32). Taufe und Firmung sind konstitutiv: alle – Frauen und Männer – sind vollgültige Glieder des einen Volkes Gottes und mit der Würde der Propheten, Priester und Könige ausgestattet und befähigt, ihr Leben aus dem Geist des Aufer­standenen mitten in der Welt zu leben. Aus dieser Sendung der Taufe ergibt sich ein Leben in der Nachfolge Jesu. Die damit verbundenen Charakteristika der „Würde der Gotteskindschaft“, der „Partizipation“, des „Lebens in Gemeinschaft“ und der „Verantwortung aller Gläubigen“ sind die Basis.

5. Das Modell der Kleinen Christlichen Gemeinschaften

In besonderer Weise kommt hierbei dem Praxismodell der „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“ (KCG) eine besondere Bedeutung zu. Denn sie können als ein gelungenes Modell der Verwirklichung der „Lokalen Kirchenentwicklung“ angesehen werden, die die Themen der „Partizipation“ und der „Verantwortung“ ernst nehmen: Menschen las­sen sich vom Wort Gottes ansprechen, stiften Gemeinschaft und enga­gieren sich in ihrem Umfeld. Sie haben die kleinen und großen Nöte ihrer Lebenswelt im Blick. Kirche wird innerhalb der KCG nachbar­­schaftlich erfahrbar und verliert die Menschen nicht aus den Augen. Die KCG sind deshalb keine weitere Bewegung in der Kirche, sondern stehen für eine Kirche in Bewegung; sie stehen für das gelebte Zeugnis getauf­ter Christen, die ihren Auftrag zur Gestaltung von Kirche und Welt vor Ort umsetzen. Dieser Zeugnischarakter hat in der Umbruchphase der deutschen Kirche einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert. Daher ist es wünschenswert, dass „die kleinen Basisgemeinschaften, auch lebendige Gemeinden genannt, in denen die Gläubigen einander das Wort Gottes verkündigen und im Dienst und in der Liebe tätig werden können, wachsen.“ (Christifideles laici 26). Das Modell der „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“ ist – so verstanden – ein starker „globa­ler“ – aus der Weltkirche erwachsener - Impuls für die „Lokale Kirchen­entwicklung“. Denn im Bewusstsein der Sendung durch die Taufe ist eine „kopernikanische Wende“ (so Hennecke) zu sehen. Diese mentale Wende besteht darin, dass nicht aus der klassischen Versorgungskirche bzw. einer schon längst nicht mehr existierenden „Volkskirche“ und der damit verbundenen Mangelperspektive (fehlendes Personal, fehlende Priester, fehlende Gemeindemitglieder, fehlende Finanzen ...) zu den­ken ist, sondern von der in der Taufe grundgelegten Sendung. Hieraus ist das Leben zu gestalten. Die im deutschen Sprachraum übliche Un­ter­scheidung zwischen „Ehrenamtlichen“ und „Hauptamtlichen“ passt deshalb nur bedingt in die Theologie des Volkes Gottes. Diese spezifisch deutsche Differenzierung des „hauptamtlichen“ bzw. „ehrenamtlichen“ Dienstes wird v.a. dann auffällig, wenn es darum geht, die Begrifflich­keiten den Partnern aus den Südkirchen zu übersetzen. Nur über Erklä­rungen ist diese Übersetzungsleistung möglich. Für viele Partner aus den Südkirchen gibt es diese Unter­scheidungen zunächst nicht, da nach der Ekklesiologie des letzten Konzils alle durch Taufe berufen sind, am Aufbau des Reiches Gottes mitzuarbeiten.

Papst Franziskus hat in einer morgendlichen Predigt diesen Gedanken entfaltet. Am Beispiel des asiatischen Kontextes erinnerte er an die Er­eig­nisse in Japan im 17. Jahrhundert: „Dort hat sich zugetragen, dass katholische Missionare ausgewiesen wurden und die Gemeinden zu­rück­blieben. Fast zwei Jahrhunderte lang gab es dort keinen Priester. Als später neue Missionare wieder ins Land kamen, fanden sie Gemeinden vor, in denen alle Gläubigen getauft waren und eine Glaubensbildung besaßen. Alle waren kirchlich verheiratet und die, die gestorben waren, hatten ein christliches Begräbnis erhalten. Doch es gab keinen Priester … Wer hatte dies getan? Die Getauften selbst!“ (Fidesdienst vom 17.04.2013).

Am historischen Beispiel sind die klare Aussage und die Entfaltung der Tauftheologie zu erkennen. Ob das zu einfach ist? Der Vorwurf einer zu simplifizierenden Reduktion mag in der komplexen westeuropäischen Welt und Kirche laut werden. Das Beispiel des Papstes „vom anderen Ende der Welt“ ist aber ein Stachel, der die Megaorganisation einer gut verwalteten und strukturierten Kirche trifft, wenn sie sich der Frage nach der „missionarischen Erneuerung“ durch alle Glieder des einen Volkes Gottes stellt. Denn jeder Einzelne ist Träger des Evangeliums und steht in der Verantwortung zur Weitergabe der Frohen Botschaft. So zumindest das letzte Konzil, so Hennecke, der die „Taufwürde“ herausstellt.

6. Würde im Zeitalter der Globalisierung

Abschließend kann der Gedanke der „Taufwürde“ weiterführen. Vielfäl­tig und bedeutungsschwer sind die ausdeutenden Riten der Taufe. Die Salbung mit dem Chrisam gehört zur Feier der Taufe und erinnert an den Gesalbten, an den Christus, der gesandt, ist, „den Armen eine gute Nachricht bringen, den Gefangenen die Entlassung zu verkünden, den Blinden das Augenlicht und die Zerschlagenen in Freiheit zu setzen.“ (Lk 4,18) Die zentrale Stelle des Lukasevangeliums steht in der inneren Logik der Salbung mit Chrisam innerhalb der Taufliturgie, die jeden Christen mit der Würde als „Priester, König und Prophet“ auszeichnet. Gerade in der weltkirchlichen Perspektive im Zeitalter der Globalisie­rung ist das Herausstellen der Taufwürde zentral. Denn: Der Sendungs­auftrag der Taufe verpflichtet für die Würde des Menschen einzustehen und sie dort zu verteidigen, wo sie bedroht ist. Nicht wenige Christen aus den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas verstehen es, ihren Glauben unter schwierigen gesellschaftlichen Bedingungen zu leben. Die Herausforderungen der Armut sind groß; die Liste der Schicksals­schläge wie Arbeitslosigkeit, Mangelernährung, Naturkatastrophen, Gewalt, fehlende Gesundheitsvorsorge oder verpasste Bildungsmög­lichkeiten ist lang. Die in den „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“ engagierten Menschen leben ihr Christsein oft an den Grenzbereichen zwischen Kirche und Gesellschaft. Sie wissen, was es heißt, für die Würde eines jeden Einzelnen einzutreten, auch dort, wo das Leben der Menschen gefährdet ist.

Der Sendungsauftrag, den Armen eine gute Nachricht, den Gefangen die Freiheit und den Blinden das Augenlicht zu bringen, ist stets konkret und beschränkt sich nicht auf den inneren Kreis der Kirche. Im „Werk­statt­bericht“ weist Hennecke ausdrücklich darauf hin, dass die „Lokale Kirchenentwicklung“ über die kirchlichen Gemeinden hinaus auch Familienbildungsstätten, Kindergärten, Schulen, Nachbarschafts­grup­pen oder Krankenhäuser als Orte des Evangeliums entdeckt. Überall dort sind Einsatz und Engagement für die Würde der Menschen gefragt. Die „Lokale Kirchenentwicklung“ sieht die Kirche „vor Ort“. Schritt für Schritt wird sie ihre Dynamik weiter entfalten, wenn sie sich am Wort der „Umkehr“ orientiert, die in der Taufe grundgelegte Sendung ernst nimmt und die Würde des Menschen verteidigt. Das Aufgeben der „morsch gewordenen Strukturen der Pastoral“ verlangt eine Partizipa­tion des gesamten Volkes Gottes, besonders aber die Beteiligung der Schwachen, der Marginalisierten und der Armen. Ohne diese „globale“ Perspektive ist die „lokale“ Kirchenentwicklung nicht zu haben.