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Fluide Religion

„Fluide Religion“: ein weiterer Begriffsvorschlag für ein Feld, das inhalt­lich nicht leicht zu fassen ist: „fluid“ eben. Es geht um die „Szene“ jen­seits „etablierter“ Religionsgemeinschaften, die mittlerweile weniger durch verfasste Gemeinschaften mit mehr oder weniger festem Mitglie­derstamm (Hare Krishna, Vereinigungskirche …) geprägt ist, sondern vielmehr durch eine Fülle marktförmiger Angebote und Netzwerkstruk­turen (Esoterik …).

Die (zusammen mit der Einleitung) elf Beiträge nähern sich diesem Feld aus sozial- und religionswissenschaftlicher Perspektive. Dass dabei die Arbeit kirchlicher und staatlicher „Sektenstellen“ u. Ä. kritisch themati­siert wird, ist deshalb geradezu „obligatorisch“ und erstaunt nicht, wenn man andere Literatur zu diesem Themenfeld kennt. Doch änderte sich in den letzten Jahrzehnten und ändert sich weiterhin nicht nur das Forschungsfeld, sondern auch die Forschungsansätze und -perspektiven selbst – und (das darf nicht übersehen werden!) die kirchliche Religions- und Weltanschauungsarbeit, die von Werken wie dem vorliegenden stark profitiert.

Der Sammelband von Lüddeckens und Walthert ist freilich nicht nur für ausgewiesene Weltanschauungsexperten interessant, sondern für je­den, der Einblicke in das Feld dieser „fluiden Religion“ bekommen möch­te. Ein Feld, das bereits zu weiten Teilen seine Exotik verloren hat und in Form einer „populären Spiritualität“ (um einen Begriff von Hubert Knoblauch aufzugreifen) in unsere „ganz normale“ Gesellschaft diffundiert ist.

Einige Schlaglichter zu den Beiträgen, die übrigens auch für Nicht-Sozial­wissenschaftler recht gut zu lesen sind:

Die generellen Entwicklungstendenzen im Feld zeichnen Dorothea Lüddeckens und Rafael Walthert in ihrem gemeinsamen Aufsatz nach und konstatieren, „dass nicht die Gegenentwürfe zur modernen Gesell­schaft sich durchgesetzt haben, sondern Lehren und Praktiken, die sich mit den Strukturen moderner Gesellschaften kompatibel und inhaltlich anschlussfähig erwiesen“ (44); der „Rückgang religiöser Autorität“ und der „Rückgang der religiösen Bestimmung des Alltages“ betreffe „nicht nur die Kirchen, sondern genauso auch Neue religiöse Bewegungen“ (35).

Die nicht mehr institutionell geprägten, sondern netz­werkartig ver­bundenen Spiritualitätsformen, wie sie sich im Esoterikmarkt zeigen, nimmt Hubert Knoblauch unter der Überschrift „Vom New Age zur populären Spiritualität“ in den Blick. Doch auch hier gibt es „Makler“, die Knotenmacher im Netzwerk, die der Beitrag von Stefan Rademacher vorstellt.

Einige Aufsätze stellen aber auch ausgewählte Gemeinschaften und Subszenen vor: die Hare Krishna Bewegung (Frank Neubert), die aus Japan stammende Neureligion Kōfuku no kagaku/El Cantare/IRHH (Franz Winter), die Freikirche International Christian Fellowship (ICF) Zürich (Rafael Walthert), das Neugermanentum (Ann-Laurence Maréchal) sowie die Black Metal Szene (Anna-Katharina Höpflinger).

Diesen Aufsätzen zu Gemeinschaften steht der Beitrag von Winfried Gebhardt gegenüber, der eine „kleine Theorie situativer Event-Verge­meinschaftung“ entwirft (wie man sie u. a. bei den katholischen Welt­jugendtagen beobachten kann).

Der einzige englischsprachige Beitrag ist von Elisabeth Arweck, die die Behandlung von Neuen Religiösen Bewegungen in der britischen und deutschen Religionswissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten nachzeichnet.

Martin Hochholzer