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Lokale Kirchentwicklung in der Praxis?

„Armut auf dem Land“ ist ein Projekt, das der Caritasverband für Stadt und Landkreis Goslar e.V. im Rahmen der Initiativen des Bistums Hildesheim zu einer lokalen Kirchenentwicklung aufgelegt hat. Andreas Pleyer beleuchtet die neuralgischen Punkte und lässt in seinen Kommentar zum Werkstatt­be­richt Henneckes die konkreten Erfahrungen aus der Praxis einfließen.

1. Die Notlage als Ausgangspunkt eines neuen Denkens

Seit ca. 20 Jahren bin ich Geschäftsführer eines kleinen Caritasverban­des und seit 2012 sind wir Träger einer der 20 Personalstellen, die im Bistum Hildesheim für die lokale Kirchenentwicklung eingerichtet wurden. Titel unseres Projektes ist „Armut auf dem Lande – Heraus­forderung für Caritas und Kirche“. Die Bewerbung um die Personalstelle – deren Aufgabe es ist, mit je eigener Zielsetzung Praxis zum Prozess „lokale Kirchenentwicklung“ auszuprobieren, zu entwickeln und im Bistum durch „Leuchttürme“ zu implementieren – ist das Resultat eines im Jahre 2010 begonnenen Verbandsentwicklungsprozesses der Caritas Goslar.

Anlass war – nicht unähnlich zur verfassten Kirche – eine Notlage. Wäh­rend dort Finanzprobleme, Abnahme von Geistlichen und Gläubigen verbunden mit der Konzentration auf den Erhalt des Bestehenden erlebt wird, war dies für den Caritasverband Goslar der Fast-Zusammenbruch mit der Entlassung von 60% der bis dahin knapp 30 Mitarbeiter. Ein „Weiter So!“ wie bisher war nicht möglich. Soll das, was bisher Praxis war, besser und intensiver durchgeführt werden? Das wäre dann etwas pointiert ausgedrückt: die Verbesserung des „Hinterherhechelns“ nach öffentlichen Fördergeldern, Marktlücken, Strukturreformen, Qualifizie­rung usw. gewesen. Oder muss es nicht völlig anders werden?

Das korrespondiert mit der Aussage von Hennecke, dass es bei der loka­len Kirchenentwicklung eben nicht mehr um Entwicklung oder Anpas­sung von Strukturen geht, sondern um ein neues Bewusstsein, genauer um die Wiederbewusstwerdung dessen, was der Herr uns sagen will. Das ist befreiend: Es gibt eine Alternative zum Strukturansatz. Hinzu kommt, dass sich der Blickwinkel geändert hat: Es geht nicht darum, Glauben und Kirche nur zu bewahren, solange es irgendwie geht. Die Erfahrung des Vertrocknens ist, denke ich, eine Erfahrung, die auf den unterschiedlichsten Ebenen gemacht wird. Stattdessen wird hier nun mutig gesprochen: „Seht her, ich schaffe Neues.“ Damit wird einerseits die uns zugesagte Botschaft in den Mittelpunkt gestellt, andererseits wird diese Botschaft verbunden mit der Erfahrung des Wehen des Geistes Gottes, mag es auch nur ein Säuseln oder vielleicht eine leicht vergrabene Erinnerung sein.

2. Ein Caritasverband als möglicher Ort kirchlichen Lebens

Zu verkünden, dass „es schon zum Vorschein kommt“, ist letztendlich keine Strukturmethodik, sondern eine Glaubensaussage. Diesen Para­dig­menwechsel von der Strukturdebatte zur Glaubensaussage halte ich für zukunftsweisend für die Entwicklung von Kirche, sowohl als Institu­tion in ihren verschiedenen Ausprägungen, als auch für die Menschen, die diese Kirche bilden. Und ich bin davon überzeugt, dass die Sehn­sucht größer ist als die Unsicherheit, was kommen wird, wenn wir nicht mehr über Strukturen, sondern über unseren Glauben reden und dar­über, was Kirche für uns ist. Dass dies holprig beginnt und auch mit Ängsten bei Haupt und Gliedern verbunden ist, habe ich auch vor Ort im Pastoralen Raum „Katholische Kirche Nordharz“ erlebt. Ich habe aber eben auch erlebt, dass sich dann ein Motto entwickelt kann wie „Eingeladen zum Wachsen.“

Hennecke spricht von „Orten“ kirchlichen Lebens. Ich sehe den Caritas­verband Goslar als (möglichen) Ort kirchlichen Lebens. Das Ergebnis des Prozesses in Goslar war eine Neubesinnung, sich nicht mehr wie in der täglichen Praxis gelebt ausschließlich als sozialer Dienstleister zu defi­­nie­ren, sondern das „Ehrenamt“ und die „Caritas der Kirche – Verbin­dung mit Gemeinde bzw. Kirche vor Ort“ neu zu leben. Ein Prozess, der durchaus schmerzhaft ist und andauert, denn es geht auch um die be­ruf­liche Existenz von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Wenn ich nun schaue, ob konkret der Caritasverband Goslar ein „Ort kirchlichen Le­bens“ sein kann, dann kommt als Erstes die Tatsache in den Blick, dass die Leitung katholisch ist und die meisten Mitarbeiter, wie in vielen Bistü­mern mit Diasporasituation üblich, evangelisch sind und es zuneh­mend den Einen oder Anderen ohne Konfession gibt. Wie kann in solch einer Pluralität ein Ort kirchlichen Lebens definiert werden?

Hennecke schreibt nun, bezogen auf die Vielfalt der kirchlichen Orte „verlangt eine solche plurale Vielfalt eine neues Verständnis der letzt­lich eucharistisch begründeten Einheit der Kirche.“ Begrüßenswert bei diesem Ansatz ist die Aussage, dass es „Kirche sein“ an den unterschied­lichsten Orten gibt. Problematisch dagegen ist die Vorgabe, dass die Ein­heit der Kirche und damit der Orte kirchlichen Lebens letztendlich eu­charistisch begründet wird. Während die Feier des Gottesdienstes als Zentrum der Gemeinde eine tragfähige Beschreibung ist, stellt sich das für die anderen Orte von Kirche, ob Kindergarten, Altenheim usw., anders dar. Würde man hier nicht ergänzend besser davon sprechen, dass ein Ort von Kirche da ist, wo der Auftrag Jesu der Nächstenliebe gelebt und auf ihn (auf Christus) hin gedeutet wird und damit – wie Hennecke fragt – auch evaluiert wäre, ob ein Kindergarten „kleine Kirche“ sei? Es geht hierbei nicht um ein „Entweder- Oder“ von Eucha­ristie und Nächstenliebe, sondern darum, dass neben der eucharis­ti­schen oder kontemplativen Anschauung das Antlitz Jesu im Armen gesehen und erfahren werden kann.

3. Was macht einen „Ort“ zu einem „kirchlichen“?

Während die Aussage zur Nächstenliebe noch gut nachvollziehbar ist, wird die Frage der Deutung auf Jesus Christus hin durchaus schwierig. Formal wird man sagen, dass es Aufgabe der Leitung einer Einrichtung ist, dies umzusetzen, inhaltlich geht es letztendlich um Verkündigung innerhalb dieses Ortes. Während es für die Verkündigung in traditionel­len kirchlichen Strukturen nur Mut, aber keiner Rechtfertigung bedarf, gestaltet sich dies im halboffenen Raum von Schulen, Kindergärten oder Altenheimen bereits anders. In den offenen Strukturen in Nachbar­schaft und lokalem Nahraum fehlt dann – zumindest außerhalb des katholischen Milieus – jeglicher unterstützender Rahmen. Würde man nun sagen: Orte kirchlichen Lebens sind nur da, wo man gewisser­maßen „unter sich“ ist?

Sind sie auch noch dort, wo gemeinsam unter katholischer Richtlinien­kompetenz karitativ oder bildend gehandelt wird? Wären Orte, wo Ka­tholiken sich im Nahraum zusammen mit anderen Beteiligten enga­gie­ren, auch noch Orte kirchlichen Lebens? Möchte man beim Letzteren sagen: Das sind Orte, an denen Christentum gelebt wird – es seien aber kein Orte kirchlichen Lebens? Weniger personal und mehr strukturell formuliert: Ich vermisse im Werkstatttext die Frage der Anschlussfä­hig­keit von Kirche an die Gesellschaft. Wie und wo taucht die Dimension des Erzählens nach Außen auf: „Seht, ich schaffe Neues“ (egal ob jetzt spirituell oder karitativ betrachtet)? Diese Frage scheint mir wichtig, da die Menschen in Orten kirchlichen Lebens persönlich in den unter­schied­lichsten Bezügen leben. Ein Belassen eines beziehungslosen Nebeneinanders der Lebenswelten führt zur Segmentierung und letztendlich zur Abtrennung von Kirche oder der Welt. Wenn von lokaler Kirchenentwicklung gesprochen wird, dann müsste auch von gelebter Kirche im Lokalraum gesprochen werden und damit auch immer von Kirche mit und für Andere.

4. Erfahrungen auf dem Weg

Diese Gesichtspunkte waren es, weswegen der Caritasverband Goslar sich als Träger einer Personalstelle für folgende Fragestellung beworben hat: Was heißt gesellschaftliche Anschlussfähigkeit und wie sieht ein Konzept von Kirche und Caritas auf dem „flachen Land“ aus? Es sollte explizit ein anderer Ansatz entwickelt werden als die Fokussierung auf Zentren und damit auch eine Antwort gegeben werden, Christ Sein im eigenen eher dörflichen Umfeld leben zu können. Konkretes Anliegen des Projektes ist es, hierbei die zunehmende (individuell, gesellschaft­lich sowie kulturell verstandene) Verelendungsproblematik in den Blick zu nehmen und über konkrete einzelne Anstöße („Aktionen“) politisch und kirchlich wirksam werden zu lassen. Schlagwortartig seien hierbei folgende Gesichtspunkte genannt, die uns wichtig waren: „Kirche in der Welt“ im Auftrag Jesu weiter zu entwickeln, an verschiedenen Orten die Charismen der Menschen zu entdecken und zu stärken. Wir wollten in diesem Projekt die Partizipation von Menschen erreichen, die sich in­ner­halb und außerhalb von Kirche und Caritasverband engagieren, so­wie von nicht-kirchlichen Akteuren und Einrichtungen. Wir nehmen als Auftrag in den Blick, Kirche vor Ort als „Gemeinschaft für Andere“ (Dienst an der Fülle des Lebens) zu verwirklichen und damit lokale Kirche vor Ort weiter zu entwickeln und lebbar bzw. er-lebbar zu machen. Ziel ist die Förderung des Selbstverständnisses von Kirche als Gemeinschaft vor Ort, die Teil des sozialen und pastoralen Raumes ist, durch Entwicklung zielgerichteter Einzelaktionen anhand von „Stark­punk­ten“, und dies orts- und bedarfsgerecht gemeinsam mit den Pfarr­gemeinden bzw. Vor-Ort-Teams und den Aufbau eines örtlichen und regionalen Netzwerkes von Interessierten, Gemeindemitgliedern, Ehrenamtlichen und Betroffenen.

Die Personalstelle wurde im November 2012 eingerichtet. Nach einer Phase der Planung und Vorstellung bzw. Rückbindung in den verschie­denen kirchlichen Gremien haben wir die örtlichen Pfarrsekretärinnen und die Vertreter der Vor-Ort-Teams in der Pastoralkonferenz als ver­mu­tete Netzwerkknoten angesprochen: Wo sehen Sie Armut? Wer in der Gemeinde, im Dorf, wäre wichtig, könnte etwas dazu sagen oder mit­ma­chen? Während die Gespräche mit den Netzwerkern inhaltlich sehr intensiv waren, zeigte sich dann bei den katholischen Strukturen vor Ort eine „hohe Praxisorientierung“: „Sagen Sie uns, was Sie von uns wol­len und wir suchen die Ehrenamtlichen!“oder „Wenn es klar ist, dass der Bedarf für eine Mutter-Kind-Gruppe da ist, dann kommen Sie wie­der und ich spreche dann den Kirchenvorstand an.“ Es war auch kein Problem, durch die Kirche vor Ort Kontakte z.B. zum Ortsvorsteher oder den evangelischen Brüdern und Schwestern herzustellen. Irgendwelche theoretischen Zusammenhänge und Begründungen, wieso es jetzt gut wäre, dass Kirche sich engagieren soll, interessierten niemanden. Das mag einerseits an der Ermüdung durch den Sitzungskatholizismus lie­gen, andererseits daran, dass die Projektaktionen konkret oder fassbar waren. Diese Praxisorientierung machte es jedoch auch schwierig, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, was lokale Kirchenent­wick­lung meinen könnte. Ablehnung haben wir nicht erfahren, häufig aber eine Mischung aus Überforderung der Ehrenamtlichen mit der Auf­rechterhaltung des Laufenden und einem Interesse an einem neuen Prozess, weil es ganz konkret um den Raum geht, in dem die Menschen leben. Interessant war, dass diese Projekte von „außen“ (Öffentlichkeit und andere Engagierte) so gesehen werden, dass die katholische Kirche sich engagiert und sich damit auch verändert. Von „innen“ her ist es eher so, dass die Motivation der „Kernkatholiken“ die ist, etwas Gutes zu tun und weil „man ja etwas für sein Dorf tut, in dem man wohnt“. Dass dies etwas mit der Kirche zu tun haben könnte, für die man mit seinem Engagement steht, war weniger im Vordergrund. Ein Zusam­men­hang mit dem Auftrag Jesu ist eher nicht im Bewusstsein. Damit wiederholt sich die Frage der Notwendigkeit der Deutung des Handelns für andere als Ort von Kirche, wie oben im Bereich der Institutionen angesprochen. Bemerkenswert war, dass sich unter den Ehrenamtlichen auch der eine oder andere als katholisch entpuppte, ohne bisher „aufge­fallen“ zu sein, aber mit der gleichen Motivationslage: etwas Gutes tun zu wollen. Ein Schatz, den es noch zu heben gilt. Dort wo Kirche vor Ort zu klein ist, oder es den Bedürfnissen der Ehrenamtlichen nicht ent­spricht, probieren wir den Menschen im Caritasverband eine Heimat zu geben.

In diesem knappen Jahr wurden zwei Schulfrühstücke und ein Kinder- und Jugendtreff aufgebaut. Konkrete Planungen gibt es für ein Fried­hofsmobil, einen Dorfladen, zwei Ehrenamtssprechstunden durch Betroffene an einem sozialen Mittagstisch bzw. Kleiderladen und Nachhilfe für Kinder. In allen Fällen sind dies Kooperationen mit den verschiedensten Gruppen und Hereinnahme Einzelner innerhalb und außerhalb von Kirche. Dies ist ein Zwischenstand, unser Projekt in Goslar hat noch zwei Jahre vor sich. Ich freue mich darauf, denn es ist zu sehen, dass „Neues Leben“ wächst (Motto der Kirchen auf dem Nieder­sachsentag 2013 in Goslar).