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Lokale Kirchenentwicklung?!

Pastoraltheologisch-diakonische Assoziationen

Um einem zu engen Verständnis von Pastoral vorzubeugen und die Pers­pek­tive für das Verständnis von Pastoral- und Kirchenentwicklung zu weiten, kommentiert Nauer Henneckes Beitrag in Orientierung an diakonischen Dimensionen, die in Einrichtungen und gesellschaftlichen Netzwerken zutage treten und ihrerseits das Verständnis lokaler Kirchenentwicklung prägen.

Der Ruf nach einer zeitgemäßen lokalen Kirchenentwicklung, der be­reits über die Bistumsgrenzen von Hildesheim hinaus erschallt, zeugt von unerschrockenem Realitätssinn, Bereitschaft zur Ehrlichkeit, lei­denschaftlicher Entschlossenheit und risikobereitem Wagemut. Sowohl die hohe Sprengkraft, als auch die (un-)vermeidlichen Fehlzündungen, die dem pastoralen Grundansatz inhärent sind, lassen sich m. E. aus dem engagierten und kenntnisreichen Werkstattbericht von Christian Hennecke herauslesen. Im Folgenden werden ebenso kurz wie prägnant einige konstruktiv-kritische Assoziationen aus der Perspektive einer hauptsächlich wissenschaftlich tätigen Theologin, die die dynamischen Entwicklungen sozusagen ‚von außen‘ betrachtet, ebenso werkstatt­mäßig zusammengetragen. Originalwörter und Originalzitate aus dem Bericht werden dabei kursiv hervorgehoben:

Glaubwürdigkeit

Dass die Katholische Kirche sowohl unter Christen als auch unter Nicht-Christen nicht nur durch den Missbrauchsskandal, sondern auch durch eine gefühlte Überwältigung durch Institution und Macht zu Beginn des 21. Jahr­hunderts enorm an Glaubwürdigkeit verloren hat, wird ehrlich zu­gegeben. Erst dieses (Schuld-)Eingeständnis macht es gegenüber heuti­gen Menschen glaub-haft möglich, öffentlich für eine neue Kultur des Kircheseins zu plädieren und eine Vision erneuerter Kirche zu entwickeln.

Inhalt vor Strukturen

Weil indirekt eingeräumt wird, dass Bistümer mit ihren Pastoralplänen immer in der Gefahr stehen, aufgrund personeller und finanzieller Eng­pässe stärker auf Strukturplanung als auf inhaltliche Visionen zu fokus­sieren, gelingt es, glaub-würdig zu versichern, dass im Hildesheimer Verständnis Kirchenentwicklung nicht in erster Linie bedeutet, (z.B. territoriale) Strukturen verändern zu wollen. Dezidiert kann daher behauptet werden, dass Strukturentwicklung nur dann Sinn macht, wenn sie der Ermöglichung der inneren Kirchenentwicklung dient.

Mentalitätswandel

Dass aber eine wirklich visionäre Kirchenentwicklung, die nicht nur die Prophetien des II. Vatikanischen Konzils tatsächlich ernst nimmt, sondern auch bereit dazu ist, weltkirchliche Impulse in den deutschen Kontext zu inkulturieren – was einen umfassenden Bewusstseinsprozess und einen grundlegenden Mentalitätswandel voraussetzt – von so manchen Christen nicht völlig problemlos mit vollzogen werden kann, wird ebenfalls indirekt eingestanden.

Kerngeschäft

Weil sich lokale Kirchenentwicklung ausdrücklich nicht als bloße Ge­mein­deentwicklung versteht, liegt ihr Spezifikum darin, bereits gelebte Sozialformen von Kirchesein aufzuspüren oder neu zu initiieren, damit ein Netzwerk kirchlicher Sozialformen geknüpft werden kann, in das auch Gemeinden eingeknüpft sind. Diese Sichtweise ist zündend und wegweisend, denn damit werden viele stark säkular geprägte Lebens- und Arbeitsorte wie z.B. sozial-karitative Einrichtungen und Dienste, die oftmals unter dem Generalverdacht stehen, nicht zum ‚Kernge­schäft‘ von Kirche zu gehören, kirchlich aufgewertet.

Kriterien von Kirche-Sein

Wenn ausdrücklich hervorgehoben wird, dass gerade dort, wo Christen sich hautnah auf die Freude und Hoffnung, Trauer und Angst (Gaudium et Spes 1) heutiger Menschen einlassen, es zur Bildung kirchlicher Lebens­räume kommt, dann stehen nicht nur Pfarrgemeinden, sondern auch Einrichtungen wie z.B. christliche Krankenhäuser, Altenheime und Hospize mehr denn je vor der Aufgabe, in einfachen Worten sowohl nach innen (Gemeindemitglieder bzw. Mitarbeitende / Führungskräfte) als auch nach außen (Nicht-Christen / Gesellschaft) auf glaubwürdige Art und Weise deutlich machen zu können, wo und wie ‚martyria‘ (geleb­te und bezeugte Froh-Botschaft auch in und trotz aller Not), ‚liturgia‘ (Eröffnung heilsamer Erfahrungs- und Feierräume von Gottesnähe), ‚diakonia‘ (solidarisches hilfreiches Für-Einander) und ‚koinonia‘ (wertschätzendes, achtsames Mit-Einander statt machtorien­tiertes Gegen-Einander) als Grundvollzüge von Kirche-Sein spürbar werden.

Dialogbereitschaft

Wenn dafür plädiert wird, flächendeckend im Volk Gottes eine Kultur partizipativer Kirchenentwicklung wachsen zu lassen, dann könnte man darin den Versuch sehen, gerade den kirchlichen Grundvollzug der ‚koinonia‘ und damit auch den immer lauter werdenden Ruf vieler (enttäuschter) Katholiken und Katholikinnen nach mehr Dialogbereit­schaft der Amtskirche (endlich) ernst zu nehmen. Es kann nicht genug gewürdigt werden, wenn ein Bischof sich selbst und seine Mitarbeiten­den auf ein genaues Hinhören auf das, was das Volk Gottes glaubt und ersehnt (inklusive dem, was sich empirisch darüber erheben lässt) ver­pflichtet und ein lernbereites Aufeinanderhören, das erst die Vorausset­zung dafür schafft, gemeinsam neue Aufbrüche zu entdecken und wachsen zu lassen, als Leitlinie ausweist.

Professioneller Rollenwandel

Dass eine verstärkte Wertschätzung des Mit-Einanders notwendiger­wei­se auch dazu führt, eine Neubestimmung des Verhältnisses von Klerikern und Laien, von Haupt- und Ehrenamtlichen, von Männer und Frauen vornehmen zu müssen, ist unvermeidlich, aber anscheinend (vielleicht nicht primär aus machtpolitischen, sondern aus theologi­schen und kirchenrechtlichen Gründen) noch nicht konsequent zu Ende gedacht. Pfarrer in der Rolle von ‚Kirchenorte-Verknüpfern‘, ‚Netzwer­kern‘ ‚facilitators‘ und ‚enablers‘ zu sehen, entspricht zwar dem anvisier­ten Kirchenmodell. Ist diese Aufgabenstellung aber von Pfarrern, die oftmals durch liturgische Dienste bereits vollkommen ausgelastet sind, unter den jetzigen Rahmenbedingungen überhaupt leistbar? Oder ist mit dem neuen Kirchenentwicklungsverständnis vielleicht sogar der ‚kairos‘ gerade für Pfarrer angebrochen, in der Nachfolge Jesu Christi stärker diakonisch eingefärbte Frei- und Experimentierräume zu ent­decken und in der Folge dem Volk Gottes mehr Verantwortung im litur­gischen Bereich sowie im Blick auf Gemeindeleitung zu übertragen?

Ehrenamtlicher Rollenwandel

Wenn das ganze Volk Gottes charismenorientiert aktiv in den Kirchenent­wicklungsprozess einbezogen werden soll, dann sind die Position und das Aufgabenfeld ehrenamtlich Engagierter vollkommen neu zu durch­denken. Dabei geht es nicht nur darum, das Klischee der (ausnutzbaren) Helferrolle für Hauptamtliche zu überwinden, sondern auch darum, (Weiterbildungs-)Modelle zu konzipieren, die Ehrenamtliche darin unterstützen, ihr christliches Gottes- und Menschenbild kontinuierlich weiterzuentwickeln, ihre Tätigkeit als Konsequenz ihres christlichen Glaubens zu begreifen, ihre Teamfähigkeit zu stärken und sich spezifi­sche Fähigkeiten anzueignen, die sie für ihren spezifischen Tätigkeits­bereich benötigen, um darin persönlich aufzublühen und ihren Mit­men­schen keinen (zusätzlichen) Schaden zuzufügen.

Be-geisterte und in-spirierte Nicht-Christen

Die für Kirchenentwicklung notwendige Konzentration auf getaufte Christgläubige, deren Charismen zu entdecken und deren Mitverant­wortung für Kirche-Sein zu stärken sind, wodurch ihre Position gerade gegenüber kirchlichen Amtsträgern deutlich gestärkt wird, provoziert trotz aller positiven Würdigung eine schwierig zu lösende Frage: Welche Bedeutung haben Nicht-Christen, die z.B. an kirchlichen Orten wie ei­nem katholischen Krankenhaus tätig sind, für die Kirchlichkeit, sprich: für die christliche Profilierung des Hauses? Liegt die Verantwortlichkeit dafür ausschließlich bei denen, die sich als Mitglieder der Katholischen Kirche ‚outen‘? Oder verlangt nicht gerade das christliche Menschen­bild, in dem prinzipiell alle Menschen als zutiefst spirituelle Wesen, die Gott (un-)bewusst in ihrem Lebens- und Arbeitsalltag spüren können, gesehen werden, anzuerkennen, dass prinzipiell alle Menschen gottge­wollt dazu in der Lage sind, kirchliche Orte be-geistert als Werk des Heiligen Geistes mit aufzubauen und mitzutragen?

Bewährtes bewahren und Neues wagen

Der Hinweis darauf, dass an den verschiedenen Orten geprägter Kirch­lichkeit unterschiedliche Formen und Gestalten christlicher Spiritualität gelebt werden (dürfen), stärkt gerade auch haupt- und ehrenamtlich tätige Seelsorger/innen in kategorialen Arbeitsfeldern wie Krankenhäu­sern, Altenheimen, Gefängnissen, Militär oder Schulen den Rücken. Sie werden nicht nur dazu ermutigt, vor Ort immer wieder den Mittelweg zu finden zwischen „Bewährtes zu bewahren und Neues zu wagen“, sondern auch dazu, ihre Erfahrungen, ihr „trial and error“ in das große Netzwerk der Kirche einzuspielen, damit die verschiedenen Kirchenorte tatsächlich voneinander lernen können.

Geist-gewirkte Dynamik

Das im Werkstattbericht erläuterte Verständnis von Kirchenentwick­lung besticht durch die geistgewirkte Dynamik, die ihr unterstellt wird. Dem Geist Gottes wird zugetraut, Raum für Neues zu eröffnen und ein­zel­ne Menschen (vor Ort und in Leitungsverantwortung) so zu be-geis­tern, dass diese in-spiriert neu entstehende Kirchenorte entdecken und sie auf der Basis unterschiedlicher Charismen gemeinsam weiterent­wi­ckeln. Da aber Heiliger Geist (die ruach) weht, wo immer sie will und von Urzeiten an nicht gerade für Systemstabilisierung, sondern für kri­tische Plausibilitätenhinterfragung, kreative Neuschöpfung und kon­struk­tive Weiterentwicklung steht, muss durchaus damit gerechnet werden, dass im Aufbruch auch Manches (lieb Gewonnene und Ge­wohn­te sowohl vor Ort als auch auf Dekanats-, Bistums- und Ordinari­atsebene) wortwörtlich zu Bruch geht, um Neuem Platz zu machen.

Unterscheidungskriterien

Im Modell partizipativer Kirchenentwicklung wird vorausgesetzt, dass es Menschen möglich ist zu erkennen, welche Dynamiken als geistge­wirkt einzustufen sind und welche nicht. Die inhaltlichen Kriterien jedoch, die anzulegen sind, um die anvisierte gemeinsame geistliche Unterscheidung vornehmen zu können, bleibt sowohl der Werkstatt­be­richt als auch der offizielle Text ‚Lokale Kirchenentwicklung. Orientie­rungen‘ schuldig. Hier liegt m.E. das größte Potential für Fehlzündun­gen! So mitreißend es ist, pneumatologisch zu argumentieren, so nach­teilig ist es auch, theologisch eindimensional den Heiligen Geist derart ins Zentrum zu rücken. Erst dann nämlich, wenn die ganze (trinitari­sche) Komplexität des jüdisch verwurzelten christlichen Gottesbildes in den Blick genommen wird, lassen sich inhaltliche Unterscheidungs­kri­te­rien identifizieren. Zur Kriteriengewinnung braucht es daher eine kla­re Rückbesinnung nicht nur auf die Erwartungen, die der seit Jahrtau­sen­den bezeugte Schöpfer-, Richter- und Befreiergott an alle Menschen stellt, die sich auf ihn berufen wollen, sondern auch eine ebenso klare Rückbesinnung auf das zwischenmenschliche Handeln und die ‚Reich Gottes‘-Botschaft Jesu, den Christen bis heute als den Christus, den Erlöser aller Menschen bezeugen.

Selbst-Evangelisierung

Lokale Kirchenentwicklung (inkulturierte und lebensraumorientierte Ekklesiogenese), die auf die Charismen des Volkes Gottes setzt, lässt sich mit Hilfe des Jesaja-Zitates („Seht her, nun mache ich etwas Neu­es“) als gottgewollt und innovativ ausweisen. Im Grunde handelt es sich jedoch nicht um die Entdeckung von etwas wirklich Neuem, sondern eher um eine Form von radikaler, d.h. an die Wurzeln gehender Selbst-Evangelisierung im Sinne einer Rück-Besinnung und Wieder-Entde­ckung von etwas, was unter Christen und Christinnen vor langer Zeit selbstverständlich war.