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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

am Ende eines von besonderen Herausforderungen geprägten Jahres stellen wir in dieser euangel-Ausgabe Zukunftsfragen. Angesichts der Corona-Pandemie haben viele Begrifflichkeiten und Kategorisierungen unsere Debatten geprägt und prägen sie noch immer. Ein zentraler Begriff war und ist der der „Systemrelevanz“. Ob eine Branche darunter gezählt wird oder nicht, kann über Wohl und Wehe entscheiden. An diesem Begriff entzündete sich auch die Debatte darüber, ob, wie und für wen das Christentum und die Kirchen (überhaupt noch) relevant sind. Auch wenn es in der damaligen Planung nicht absehbar war, ist das Thema Zukunft des Christentums so auf neue Weise aktuell. Für die Frage, unter welchen Bedingungen und auf welche Weise wir morgen glauben werden sowie warum und wozu Kirche sein soll, kann ein Gedanke des Schriftstellers Alfred Andersch (1914–1980) Orientierung geben, der auch in der Zukunftswissenschaft Eingang gefunden hat:

„Die Zukunft wird der Gegenwart sehr viel ähnlicher sein, als wir heute noch denken; aber die Gegenwart ist schon sehr viel anders, als wir sie heute wahrnehmen.“

Um einen Ausblick in die Zukunft des Christentums zu wagen, haben wir in der aktuellen euangel-Ausgabe unterschiedliche und differen­zierte Wahrnehmungen der gegenwärtigen Situation versammelt, um so – in der Hoffnung, zumindest Konturen deutlich werden zu lassen – einige Schlaglichter zu werfen.

Den Auftakt macht Monika Zulawski, die aus der Perspektive der Trans­formationsforschung auf das in ihren Augen sinnstiftende Narrativ des Christentums blickt und angesichts aktueller Krisen die Zeit gekommen sieht, um für alte, zeitbedingte und nicht mehr verständliche Frag­mente dieses Narrativs neue Fragmente zu suchen und diese in die Breite der Gesellschaft zu tragen.

Der Vizepräsident des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Thies Gundlach, entwirft Visionen einer Kirche von morgen, die Prozesse des Rückbaus und des Kleinerwerdens nicht nur organisiert, sondern sie als theologisch-spirituelle Herausforderung und Chance verstehen will. David Gutmann und Fabian Peters, die Autoren der Studie „Projektion 2060“ des Forschungszentrums Generationen­verträge der Universität Freiburg zur langfristigen Entwicklung der Kirchenmitgliedschaft und des Kirchensteueraufkommens in Deutsch­land („Freiburger Studie“), liefern einen Überblick über Reaktionen zu den Studienergebnissen seitens der katholischen Kirchenleitungen.

Der Wirtschaftsjournalist und Zukunftsforscher Erik Händeler sieht demgegenüber im neuen Aushandeln der Interessen des Einzelnen und des Gemeinwohls in der digitalisierten Wissensgesellschaft eine Chance für das Christentum, die über partikulare Interessen hinausgehen und so Wohlstand sichern könnte. Eine kritische Auseinandersetzung mit Händelers Ansatz findet sich nachfolgend bei Christian Spieß, Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Katholischen Privat-Univer­sität Linz, der sich dagegen ausspricht, das Evangelium in den Dienst ökonomischer Systemrationalität zu nehmen. Im Anschluss haben wir Händeler noch einmal die Gelegenheit gegeben, auf Spieß’ Einwände zu reagieren.

Die evangelische Theologin Sabine Bobert propagiert eine neue Reforma­tion des Christentums unter Rückgriff auf die Mystik und auf monasti­sche spirituelle Traditionen der Meditation und Kontemplation. Sie votiert für eine „Mystische Kirche“, welche sich in einer Wahrneh­mungsschulung und einer Öffnung für das Leben als „emerging church“ Bahn bricht. Im Anschluss wagt Jonas Bechtold, Leiter des Referats Statistik und Pastoral im Seelsorgeamt des Bistums Limburg, ein Gedankenexperiment zum euangel-Thema mit Hilfe der Theorie der Megatrends. Die Pastoraltheologin Judith Klaiber nähert sich der Frage nach der Zukunft des Christentums auf zwei Pfaden: zum einen aus der Perspektive religionssoziologischer Diskurse, die eine zunehmende Pluralisierung und Säkularisierung von Religion konstatieren, zum anderen mithilfe von Methoden der Extrapolation von Zukunft. Für die Kirche zeigen sich für sie damit krisenhafte Strukturschwächen, die bislang noch kaum zukunftsfähig bearbeitet worden sind. Die Stuttgar­ter Theologin und Seelsorgerin Monika Kling-Witzenhausen schlägt nach einer Analyse der kirchlichen Erosionsprozesse eine Option für die Suchenden in der Pastoral vor, die die „Leutetheologien“ der Menschen ernst nimmt und die Frage nach dem Wozu von Kirche nicht scheut. Daniel Born stellt auf dem Hintergrund der Frage nach Kirchen­entwicklung das 2019 vom Bonifatiuswerk initiierte Förder­programm Räume des Glaubens eröffnen vor. Zur Abrundung des Schwer­punktes geht Angela Reinders anhand der Dimensionen Denken, Erfah­ren, Handeln und Feiern den Erfahrungen des Auseinanderdriftens in der katholischen Kirche nach und schlägt von dort eine Brücke zur Kirchenentwicklung.

Die Frage nach der Zukunft des Christentums hat am Beginn des Kirchen­jahres immer einen eigenen Charakter, da hier auf besondere Weise der Blick auf Gottes Heilshandeln in der Geschichte gelenkt wird. Diese Perspektive erinnert auch an das Motto des Besuchs von Papst Bene­dikt XVI. in Deutschland im Jahr 2011: „Wo Gott ist, da ist Zukunft“. In diesem Zusammenhang hatte der Papst in dem von ihm gesprochenen Wort zum Sonntag am 17.9.2011 erläutert, dass es bei der Reise darum gehen sollte, „dass Gott wieder in unser Blickfeld tritt, der so oft ganz abwesende Gott, dessen wir doch so sehr bedürfen“. Hierfür ist die Sehnsucht des Menschen als auch seine „Wahrnehmungsfähigkeit für Gott“ bedeutsam, die in dieser Advents- und Weihnachtszeit, die ver­mutlich bei vielen so ganz anders als sonst verbracht werden wird, wieder neu entwickelt und eingeübt werden kann: Gott zeigt sich, er kommt uns in Jesus, dem Christus, nahe, er ist „mit uns“ und eröffnet Zukunft, seine Zukunft. In diesem Sinne wünschen wir Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest!

Ihr