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Kirche wohin?

Ein real-utopischer Blick in die Zukunft

G. Greshake, Professor em. für Dogmatik und Ökumenische Theologie an der Universität Freiburg i. Br. und langjähriger Gastprofessor an der Gregoriana in Rom, leistet mit seinem Buch einen Beitrag zur Frage einer zukunftsfähigen Gestalt der Kirche in Deutschland. Ausgangs­punkt ist eine von ihm festgestellte Haltung der Reaktion der „maßgeb­li­chen kirchlichen Instanzen“ auf die aktuellen pastoralen Her­aus­forderungen nach dem Prinzip: „Retten, was zu retten ist; halten, was zu halten ist!“ (10). Er vermisst eine in die Zukunft weisende erneu­ernde Perspektive, die er mit seinen Über­legungen vorlegen möchte. Eine solche speist sich für G. nicht primär aus vergangenen, sondern aus in der Gegenwart vorliegenden Ansätzen. Grundlegend für die Über­legungen ist so der Ansatz einer „real-utopischen Perspektive“, den G. in den Prolegomena (9–24) ausführt. Mit dem Begriff der „Real-Utopie“ soll eine „nur fiktionale und folgenlose Vision“ zurückgewiesen werden, ohne jedoch das Moment des Utopischen, das „auf einer unbedingt zu erneuernden Zukunft [insistiert], die noch nicht ist […] sich aber gleich­wohl […] in gegenwärtigen […] Entwicklungen […] vorwegentwirft“ (16), aus dem Blick zu verlieren. In der realen Gegenwart gründende „Real-Utopien“ nehmen daher auf Tendenzen der Gegenwart Bezug und stellen Extrapolationen bisheriger Erfahrungswerte auf Zukunft hin dar: „Sie gründen in Realität und zielen auf Realität“ (24).

Auf diese methodischen Vorbemerkungen folgt in Kapitel II eine knapp skizzierte Analyse der heutigen kirchlichen Situation (25–86): G. nennt erstens das Ende der „Volkskirche“, die sich nach der „Konstantinischen Wende“ in Folge der zunehmenden Privilegierung klerikalisierte und überinstitutionalisierte und eine nicht selten entscheidungslose Kir­chenzugehörigkeit förderte, und zweitens die Herausforderungen der säkularen und postsäkularen Gesellschaft, wobei er v. a. auf das „Projekt der Neuzeit“, die „Verwirklichung des je einmaligen Subjekts in seiner unableitbaren Freiheit“ (54) und die damit verbundene Pluralisierung aller Lebensbereiche, abhebt. In den Blick kommen dabei auch Säkula­risierung und Phänomene neuer Religiosität. Abschließend beschreibt G. ein verengtes Glaubensverständnis, das sich vom biblischen Aus­gangspunkt (nach K. Rahner „das ganz persönliche Setzen auf die liebende ‚Selbstmitteilung Gottes‘“ [73]) hin zu einem vorrangigen Für-wahr-Halten vorgegebener Inhalte entwickelte, welches sich zudem in einem „quasi-magischen“ Sakramentsverständnis äußerte. Insgesamt arbeitet G. so eine Negativfolie heraus, „die der zukünftigen Ekklesia fernliegen“ (84) sollte.

Von dort entwirft G. im Hauptteil des Buches (Kapitel III) miteinander vernetzte Grundlinien einer zukünftigen Kirchengestalt (87–230): eine Minderheitenkirche, eine Kirche der Laien und eine spirituelle Kirche in veränderter Sozialgestalt. Zunächst beleuchtet er dafür jedoch die sakramentale Dimension der Kirche als das in allem Wandel Bleibende (88–95). Das Sakrament-Sein der Kirche, nach Lumen gentium ihr Zeichen- und Werkzeug-Sein, gehört zu ihrem Wesen in allen Zeiten und Epo­chen: Sie bezeugt die absolute Liebe Gottes. Hieraus leiten sich konkret auch die Communio und Missio als zur Grundgestalt kirchlichen Lebens gehörend ab, wobei der Missionsauftrag als „entschiedenes Leben aus dem Glauben“ (94) gekennzeichnet wird.

Als eine zweite Grundlinie sieht G. den zukünftigen „Minderheiten-Sta­tus“ der Kirche: Da man nicht mehr durch Vererbung und Nachwuchs, sondern „kraft freier Entscheidung […] dem Evangelium Glauben schenkt und bewusst sein Leben darauf ausrichtet“ (96), wird dies „die Sache einer Minderheit sein“ (ebd.), ein Phänomen, auf das K. Rahner bereits 1959 hingewiesen hat, als er die Minderheiten-Situation der Kirche als „heilsgeschichtliches Muss“ bestimmte. Eine solche Minder­heiten-Kirche zeichnet sich durch „klare Konturen“ (gemeint sind: das gemeinsame Bekenntnis des Glaubens, der den Zusammenhang von Gläubigkeit und Glaubensgehalt bewusst hält, die praktische christliche Verantwortung für die an­deren und die Orientierung an der Heiligen Schrift) und „inneren Zusammenhalt“ aus. Hier kommt für G. zudem das Moment der Stellvertretung zum Tragen, das tief in die biblische Heilsgeschichte eingeschrieben ist (man denke nur an die von H. Schür­mann begrifflich herausgearbeitete „Pro-Existenz“ Jesu). Der Stellver­treter macht nicht „den Job des anderen“, vielmehr vertritt er den an­deren ganz persönlich und hat „keinen größeren Wunsch, als dass der andere, für den er eintritt, selbst einmal seine ihm zugedachte Stelle übernimmt“ (114). Damit übernehmen die Christen eine gewaltige Aufgabe: Die kleine Minderheit steht „stellvertretend für alle vor Gott und wirk[t] mit am guten Bestand dieser Welt“ (116).

Dies führt zur nächsten Grundlinie: dem „geistlicheren Anblick“ der Kirche der Zukunft, der geprägt sein wird von weniger Institution, weniger Geschäfts- und Machtpositionen, mehr personalem Zeugnis und vor allem, das berühmte Rahner-Wort („Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein oder er wird nicht mehr sein.“) aufnehmend, einem mystischen Charakter: „Der Einzelne (und die Gemeinschaft der Glaubenden) [müssen] mit dem Glauben selbst persönliche ‚Erfahrun­gen‘ machen“ (129). Diese mystische Dimension des Glaubens muss nach G. dringend neu entdeckt und neu vermittelt werden. Im Weiteren beschreibt er die entsprechenden Konsequenzen für eine „geistliche Seelsorge“, die aktuell durch ihre Orientierung an Effizienz, Quantität und Erfolg nach G. einen „praktischen Deismus“ (G. Bittner) offenlegt, für eine „geistlich gefeierte Liturgie“ (wider eine „Inflation des Verbalen“ [137], hin zu einer Feier, durch die die gefeierten Mysterien die Men­schen wirklich innerlich ergreifen können), für die „Zukunft des Ordenslebens“ und für die „geistliche Ausübung des ,geistlichen‘ Amtes“. Dessen spirituellen Auftrag sieht G. darin, „Menschen zur Gotteserfahrung zu führen“ (140), doch bestehe die Rollenunsicherheit vieler Priester eben darin, dass sie „nichts über die Erfahrung Gottes zu sagen“ (K. Rahner) haben.

Als vierte Grundlinie zeichnet G. eine „Kirche der Laien“, die er in die spannungsreiche Geschichte der Klerikalisierung des kirchlichen Lebens nach der Konstantinischen Wende bis ins 21. Jh. einordnet. Im An­schluss an das 2. Vatikanische Konzil betont er die ungleich größere und fundamentalere Einheit von Amtsträgern und Laien vor aller Differen­zierung und sieht hier auch das gemeinsame Priestertum aller Getauf­ten konkret verortet. Das sakramentale Amt, das „im Dienst des ge­meinsamen Priestertums“ steht, bestimmt er als „sakramentales Zeichen […], das wesentlich von sich selbst weg- auf das Bezeichnete hinweist“ (163 f.). Insofern hält das Amt die Grunderkenntnis wach, „dass nur einer Herr der Kirche ist, […] Jesus Christus selbst“ (164). Damit ver­weist das Dienstamt von sich selbst weg, so dass „im Grunde jeder klerikalistische und triumphalistisch-hierarchische Thron […] umge­stoßen“ (165 f.) ist. Doch gleichwohl obliegt für G. die „zeichenhafte ,Christus-Repräsentanz‘“ dem Amt, auch wenn in der Kirche der Zu­kunft „hirtliches Handeln“ weitgehend von Laien übernommen werden wird (171). Das sakramentale Priesteramt wird in der künftigen Kirche „wieder im Vollsinn als sacramentum zu verstehen [sein]: Amt ist Vika­riat für Christus, sakramentale, und das heißt: sich selbst zurückneh­mende Vergegenwärtigung der Christus-Wirklichkeit an den Knoten­punkten kirchlichen Lebens. In diesem Sinne ist das Amtspriestertum ‚Dienst am gemeinsamen Priestertum‘, ‚eines der Mittel, durch die Christus seine Kirche unablässig aufbaut und leitet‘ (Weltkatechismus 1547)“ (172 f.). Die Kirche der Zukunft wird so eine entklerikalisierte Kirche sein, in der das sakramentale Amt zwar seine spezifische Bedeu­tung haben, das Erscheinungsbild der Kirche aber nicht mehr „vorrangig bestimmen“ (173) wird.

Dies führt zur fünften Grundlinie, die sich den kirchlichen Sozialgestal­ten widmet: Im Gegensatz zu ihrem bleibenden sakramentalen Charak­ter finden sich jeweils unterschiedliche, der jeweiligen Zeit geschuldete und von ihr bestimmte Sozialgestalten der Kirche. In Zukunft werden diese v. a. unter den Bedingungen der Individualisierung gestaltet wer­den müssen, d. h. als Gemeinschaftsformen, die die Freiheit nicht ein­schränken, sondern zur Geltung bringen. Konkret resultiert daraus für G. eine negative Bewertung der Bemühungen zahlreicher Diözesen, neue und größere pastorale Einheiten zu schaffen. Stattdessen kommt für G. folgende Mischung in den Blick: a) so genannte „Ortsgemeinden“, die von Christen gebildet werden, „die, gemeinsam in einem näheren Umfeld wohnend, sich zum regelmäßigen Gotteslob, zum gemeinsa­men Glaubensaustausch und caritativen Dienst versammeln“ (208), b) „geistliche Zentren“, worunter „größere seelsorgliche Räume [ver­standen werden], welche sich auf das gemeinschaftliche geistliche Leben des Glaubens konzentrieren und in ihrer geographisch größeren Dimension die […] Ortsgemeinden weit überspannen“ (210), und c) „Gemeinschaften in einer fluid church“, die „keine verbindliche Zugehörigkeit und erst recht keine feste Mitgliedschaft fordern“ (213). Den Abschluss des Buches bildet ein Appell, „ohne Angst und Furcht vor dem Unbekannten und im Vertrauen auf Gottes Treue […] den Auf­bruch“ zu wagen (233).

 

Greshakes Ausgangspunkt – das Fehlen von in die Zukunft weisenden Perspektiven und eine Haltung der Reaktion der „maßgeblichen kirch­lichen Instanzen“ (10) – ist jedoch zu hinterfragen. An vielen Stellen finden sich zukunftsweisende Ansätze und qualitätsvolle Neuauf­brüche, um nicht zuletzt die von G. aufgezeigten Grundlinien Wirklich­keit werden zu lassen. Gerade seine real-utopische Methode, die auf bereits in der Gegenwart vorliegenden Ansätzen aufbaut, macht dies deutlich. Der dennoch lesenswerte Entwurf einer Zukunft der Kirche entwickelt seine Stärke in den grundsätzlichen, v. a. systematisch-theologischen Überlegungen. So verwundert es auch nicht, dass G.s Ansatz stark von K. Rahners pastoraltheologischen Überlegungen geprägt ist. Die Analyse, die eine Verarmung der mystischen Dimension des Glaubens in Vergangenheit und Gegenwart offenlegt, führt auf die zentrale Spur des Entwurfes: „Nur die Revitalisierung des Glaubens im ursprünglichen und vollen biblischen Sinn schenkt der Kirche neue Zukunft“ (83). Gerade dieser mystische Ansatz scheint die Zukunfts­fähigkeit der Kirche zu bestimmen.

Manche Aspekte der Grundlinien sind jedoch zu problematisieren, was G. z. T. auch selber tut: In welchem Verhältnis steht eine Minderhei­ten­kirche zu einem „Elite-Christentum“? G. will die „kleine Herde“ nicht „zu einem Wert an sich oder gar zum Ziel“ hochstilisieren, sondern die „Frage des Quantum völlig in die Hände Gottes“ legen „und damit ihre Bedeutung für uns“ entmachten (99). Er sieht die Kirche als Minderheit „keines­wegs [als] eine perfekte Gemeinschaft von vorbildlichen Christen“, sondern als ein „hybrides Mischgebilde“ (M. N. Ebertz). Damit zeigt G. zwar an, wie sich eine Minderheitenkirche konkret von einer Kirche des „heiligen Rests“ unterscheiden müsste; es wird hier jedoch auch eine Grundschwierigkeit des Ansatzes der „Real-Utopie“ deutlich: Es wird weniger angezeigt, „was sein wird, als was sein sollte, könnte, müsste“. Bei der Frage nach dem geistlicheren Anblick der Kirche der Zukunft gesteht G. auch offen und ehrlich, dass seine real-utopische Methode hier „versagt“ (157).

Und so verwundert es nicht, dass vor allem an den Stellen Fragen auf­kommen, an denen die Überlegungen konkreter werden. Einige im Buch geführte Debatten hinken der pastoraltheologischen Diskussion hinter­her, so z. B. die Frage des weltkirchlichen Lernens im Blick auf das Bistum Poitiers und so genannte „Kleine Christliche Gemeinschaften“ (KCGs) (175). Extrapolationen, wie z. B. „Laien können und werden in Zukunft immer mehr Gemeinden leiten“ (174), sind bereits an vielen Orten Realität, auch wenn das „immer mehr“ sicher korrekt sein dürfte. Der Blick auf die Sozialgestalten ist ernüchternd: Die aufgeworfenen Modelle (Ortsgemeinden, geistliche Zentren, fluid church) werden nur knapp behandelt. Innovative Entwicklungen wie die „Fresh Expressions of Church“, Gründerschulungen etc. werden nicht erwähnt. Nordameri­kanische Pfarreierneuerungsprogramme (z. B. „Divine Renovation“ und „Rebuild“) werden nicht problematisiert. Im Blick auf die „Gemein­schaften in einer fluid church“ vermisst man die Beschäftigung mit den Beiträgen von Peter Ward („Liquid Church“) und Zygmunt Bauman („Liquid Modernity“). Die Aufnahme aktueller pastoraltheologischer Debatten ist keine Stärke des Entwurfs. Diese liegt eher bei den besagten grundsätzlichen Überlegungen. Erfri­schend ist, dass G. eine Lanze für die Sinnhaftigkeit des Zölibats bricht, auch wenn er davon ausgeht, dass es auch in der westlichen Tradition in Zukunft verheiratete Priester geben wird (vgl. den Exkurs zum Zölibat [180–182]). Die Frage der Frauenordination sieht G. „fast exklusiv [in] westlichen Industrie­ländern“ (183) virulent und in der Sache beantwor­tet: Nach den entsprechenden lehramtlichen Aussagen wird das sakramentale Dienstamt weiterhin Männern vorbehalten bleiben. Unabhängig von der Frage, ob dieser Themenkomplex allein ein Thema westlicher Industrieländer ist, kann sicher gesagt werden, dass er in unseren Breiten vehementer als andernorts diskutiert wird. Dies zeigen nicht zuletzt unterschiedliche bischöfliche Positionen, die die Debatte über die Weihe von Frauen in der katholischen Kirche als „für nicht abgeschlossen“ oder „außerhalb der Lehre der Kirche“ bezeichnen.

G. versucht darüber hinaus, das kirchliche Amt nicht als „eine Instanz, welche als Machtfaktor die Kirche leitet und prägt“ (188), zu verstehen. Er will so die Frage nach dem Frauenpriestertum von der Frage nach der Macht in der Kirche lösen. Die realen Diskrepanzen zwischen vielfälti­gen Erfahrungen eines klerikalen Machtanspruchs und dem in der Sache von sich selbst weg verweisenden Amt werden allerdings nicht ausrei­chend problematisiert. Analog ist angesichts der kirchlichen Krisen­erfahrungen und des erschütternden Missbrauchsskandals zu fragen, ob die Machtfrage im Blick auf das kirchliche Amt von G. nicht doch unterschätzt wird.

Insgesamt sind die hier vorgelegten Grundlinien, die eine Minderhei­tenkirche, eine Kirche der Laien und eine spirituelle Kirche in veränder­ter Sozialgestalt extrapolieren, jedoch treffend: G. plädiert für eine Abkehr von der Frage gesellschaftlicher Bedeutsamkeit der Kirche und von der Machtfixierung und stellt von der Sakramentalität der Kirche her die Frage, „inwiefern […] dieses konzernartige Gebilde Kirche Zeichen für die unbegreifliche Liebe Gottes zur Welt, Zeichen auch für die Gemeinschaft von Gott und Mensch sowie der Menschen untereinan­der“ (121) sein kann. Also die Grundfrage: Warum und wozu Kirche? G.s mit Gewinn zu lesender Antwortentwurf ist bedeutsam, auch wenn vieles nicht neu ist. Die Perspektive einer „höchst farbigen, vielfältigen, keineswegs auf einen Nenner und in eine uniforme Ordnung zu bringen­den“ (216) Kirche der Zukunft führt geradewegs zur mystischen Dimen­sion des Glaubens, die dringend neu entdeckt und neu vermittelt wer­den muss, so dass der „Einzelne (und die Gemeinschaft der Glaubenden) mit dem Glauben selbst persönliche ‚Erfahrungen‘ machen“ (129) kann.

Markus-Liborius Hermann