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Die Zukunft der Kirche – ein Gedankenexperiment mit Hilfe der Theorie der Megatrends

Niemand weiß, wie die Zukunft aussieht. Doch es lassen sich globale Verän­derungsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft ausmachen – die so genann­ten Megatrends –, die wahrscheinlich auch in Zukunft weiterwirken werden. Jonas Bechtold greift vier Megatrends auf, um an ihnen Herausforderungen für die Zukunft der Kirche abzulesen.

Wie die Kirche in Deutschland in zwanzig oder dreißig Jahren aussehen wird, ist nicht vorhersehbar. Die zukünftige (Sozial-)Gestalt der Kirche wird allerdings unter anderem davon abhängen, wie und ob sie auf die Megatrends dieser Zeit reagiert. Im Folgenden werden vier Megatrends in den Blick genommen und ihre Auswirkungen auf die Kirche reflek­tiert: Individualisierung, Konnektivität und Mobilität, Ökologie sowie Gesundheit. (Die Idee der Megatrends entstammt dem Zukunftsinstitut in Frankfurt/M. und Wien. Die Ausführungen zu den Trends sind in Teilen der Homepage des Instituts entnommen.)

Doch vorab: Was sind Megatrends? John Naisbitt, ein US-amerikani­scher Politikwissenschaftler, Spitzenpolitiker, Berater und Autor, prägte mit seinem gleichnamigen Buch (1982) den Begriff der Megatrends. Megatrends beschreiben langfristige Entwicklungen, die alle Bereiche der Lebenswelt betreffen und global beobachtbar sind, daher kann man mit einer hohen Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sich ihre Entwicklung auch in die Zukunft hinein fortsetzt. Die Megatrends geben Hinweise auf Themen und Entwicklungen, die die Welt in den unterschiedlichsten Bereichen umgestalten werden (vgl. auch für die folgenden Ausführungen zu den Megatrends Horx 2014, 61–77).

Der grundlegendste und prägendste Megatrend für die westliche Welt ist die Individualisierung. Sehr vereinfacht ausgedrückt meint Indivi­dualisierung die Freiheit, wählen zu können. Die Auswirkungen auf die Kirche zeigen sich u. a. in sinkenden Gottesdienstbesucherzahlen und in der Zunahme der Austritte. Die Zugehörigkeit zur Kirche aus sozialen und traditionellen Gründen nimmt immer mehr ab. Entscheidend für eine Mitgliedschaft werden immer mehr religiöse Gründe. Menschen wählen im Angebot der verschiedenen Religionen das, was ihnen guttut. So wurde im Laufe der Zeit aus dem „katholischen Sportrasen“ eine „weltanschauliche Blumenwiese“ (Zulehner 2020, 30). Die Pluralität an individuellen Ausprägungen der Religiosität wird weiter zunehmen. Ob jemand formal einer christlichen Kirche angehört, wird in Zukunft im­mer weniger über die Bedeutung der Religiosität für sein Leben aussa­gen. Angesichts zunehmender Individualisierung wird immer häufiger die Frage laut, wie noch religiöse Vergemeinschaftung möglich sein kann. Doch Individualisierung und Vergemeinschaftung sind keine sich widersprechenden Trends. Vielmehr vergrößert sich derzeit durch die Digitalisierung und eine erhöhte Mobilität das Angebot an Gemein­schaftsformen. Neu ist, dass nicht mehr allein das Territorium und die geografischen Begrenzungen über Zugehörigkeit entscheiden, sondern gemeinsame Interessen oder ähnliche biographische Situationen.

Die zunehmende Vernetzung der Gesellschaft wird durch die beiden Megatrends Konnektivität und Mobilität beschrieben. Neue Wirtschafts­zweige wie die Share Economy zeigen, wie sich durch digitale Vernet­zung das Verhältnis zu Besitz ändert. In Verbindung mit dem Gedanken einer nachhaltigen Nutzung wird es als sinnvoll erachtet, Alltagsgeräte zu teilen. Dass Autos und E-Scooter geliehen werden können, ist bereits Normalität. Immer mehr werden aber auch handwerkliche Geräte zur Nutzung angeboten, bis dahin, dass erste Firmen Kleidung in einer Art Leasing-Konzept anbieten. Vermehrt wird auch das Leben geteilt. In sozialen Netzwerken werden die Highlights des Lebens fotografisch festgehalten und Kontakte für die berufliche Karriere geknüpft. Aber es entstehen auch immer mehr Formen des physischen Zusammenlebens. Wohngemeinschaften sind nicht mehr nur eine studentische Lebens­weise, sondern werden gerade im städtischen Bereich aufgrund steigen­der Wohnkosten auch bei älteren Menschen immer beliebter. Zuneh­mende Vernetzung zeigt sich auch in den Medien. Große Sportereig­nisse können selbstverständlich gleichzeitig auf verschiedene Art und Weise erfahren werden. Neben dem physischen Erleben vor Ort gibt es Livestreams, Live-Chats, Apps, Liveticker, Informationen über den Puls des Sportlers und Zugriffe auf selbstgewählte Kameraperspektiven. Die Frage „Wer ist näher am Geschehen?“ lässt sich nicht mehr eindeutig beantworten. Gemeinschaftliches Erleben und physische Präsenz müs­sen nicht zwingend zusammengehören. Der erlebte Raum wird größer – vor allem lässt er sich nicht mehr geografisch abgrenzen, sondern wird vermehrt geprägt durch Beziehungen unterschiedlicher Stärke und Qua­lität. Dieses physisch-digitale Beziehungs-Territorium ist das neue Feld der Kirche.

Nicht nur das Verhältnis der Menschen zueinander ändert sich, auch das Bewusstsein für Zusammenhänge zwischen menschlichem Handeln und Umwelt tritt zunehmend stärker in den Vordergrund. Die Ökologie ist ein Megatrend, der Entwicklungen in Technologie, Kultur, Politik und Wirtschaft vorantreibt. Neben ökonomischem Profit wird immer häufiger ein sozialer und ökologischer Mehrwert angestrebt und als sinnstiftend erlebt. Der bewusste Umgang mit der Natur und dem eigenen Erleben tritt vermehrt in den Vordergrund und wird als leitend für das eigene Handeln empfunden. Digitales Fasten, Achtsamkeit, Slow-Food und Tiny Houses sind Subtrends, die deutlich machen, wie eng die Suche nach der Natur des eigenen Lebens (Sinn) und ökologi­sches Bewusstsein verbunden sind. Mit der Enzyklika Laudato si’ hat Papst Franziskus dem Thema Umweltbewusstsein auch in der Kirche eine stärkere Präsenz gegeben. Die Kirche sieht den Menschen und die Welt als Schöpfung und ist der Überzeugung, dass sich das Göttliche und das Menschliche in der Schöpfung begegnen. Diese christliche Ökologie ist durchaus gesellschaftlich anschlussfähig.

Der ganzheitliche Blick auf die Welt beeinflusst auch den Megatrend Gesundheit. Das Thema Achtsamkeit und individuelles Gesundheits­management bekommt eine immer größere Bedeutung. Sport hat sich als Lifestyle und Alltagspraxis in vielen Bereichen fest etabliert. Eine zunehmende Zahl an Menschen beobachtet sich dabei mit Hilfe digita­ler Geräte selbst und lässt sich von der Uhr am Arm ermutigen, am Abend noch einen Spaziergang für die notwendige Anzahl an Schritten zu tun. Gleichzeitig erlebt die Schulmedizin eine ganz neue Aufmerk­samkeit und Bedeutung und der Zuspruch im Bereich alternativer Heil­methoden wächst. Die Kirche muss sich schon deshalb zu dem Themen­komplex Gesundheit und Heil verhalten, da Menschen christliche Pro­dukte damit verknüpfen. Man denke nur an die zahlreichen Heilungs­ratgeber mit Berufung auf Klosterrezepte oder an Angebote wie „Auszeit im Kloster – Entdecke Dich und Deine Wünsche“. Und nicht zuletzt hat Jesus Christus selbst als Heiler gewirkt.

Bereits jetzt verändern die Megatrends Individualisierung, Konnektivi­tät und Mobilität, Ökologie sowie Gesundheit die Kirche und sie werden es weiterhin tun. Die Aufgabe der Kirche besteht darin, ihre Grundfunk­tionen mit Hilfe der Trends weiterzuentwickeln. Die Megatrends schöp­fen ihre Energie aus den Bedürfnissen der Menschen. Die Treiber für die Entwicklungen, die sich derzeit beobachten lassen, sind die Sehnsucht nach Freiheit und Selbstverwirklichung, die Suche nach Gemeinschaft und Natürlichkeit sowie der Erhalt der Gesundheit. Insofern sind die Kirchen herausgefordert, Ihren Auftrag in der Welt darauf antwortend zu gestalten.

Die Megatrends machen eine höhere Komplexität in der Gesellschaft und in der Kirche sichtbar, da die neuen Entwicklungen die alten Zu­stände nicht zwangsläufig ersetzen, sondern häufig als paralleles Angebot existieren und sich durch Wechselwirkungen ständig weiter­entwickeln. Die Unübersichtlichkeit der Systeme – auch des Systems Kirche – wird daher immer größer. Die Kirche steht vor der Herausfor­derung, völlig neue Gemeinschaftsformen, Arbeitsformen und Glau­bensformen in ihre bereits jetzt vorhandene Pluralität zu integrieren. Das Aushalten von Verschiedenheit und zunehmender Komplexität und ein positiver Blick darauf wird eine Aufgabe der Zukunft sein. Das be­deutet, Abschied zu nehmen von Planbarkeit, Gewissheit, Machbarkeit und Vereinfachung. Komplexe Systeme brauchen auf allen Ebenen Freiräume zur Gestaltung und Entscheidung, um schnell, flexibel und ausgleichend reagieren zu können.

Wie kann die Kirche sich dem stellen? Hans Rosling, ehemaliger Profes­sor für Internationale Gesundheit, bezeichnet seinen Blick auf die Zu­kunft als „Possibilismus“ und bietet damit eine Perspektive – auch für die Kirche. Possibilismus ist eine Sicht auf die Möglichkeiten. Diese Sicht ist weder gekennzeichnet von grundloser Hoffnung noch von grundloser Furcht. Vielmehr werden die Fortschritte in den Blick ge­nommen, und daraus entsteht die Überzeugung und Hoffnung, dass weitere Fortschritte möglich sind (vgl. Rosling 2018; Horx 2019, 293–307). Es geht um ein Grundvertrauen in die Welt, die Kirche und in Gott. Possibilisten lieben Unsicherheit. Denn darin steckt die Chance auf Lösung. Und Possibilisten sind dankbar – für das, was schon gelingt. Es fängt also bei der persönlichen Haltung an.

Trotz aller Versuche, die Zukunft vorherzusehen, bleibt es dabei: Die Zukunft ist offen, wir wissen nicht mit letzter Sicherheit, was sein wird. Gerade jetzt ist es nicht eindeutig, wie der Tourismus, die Wirtschaft, die Kultur, die Kirchen und viele andere Bereiche der Gesellschaft nach der Corona-Pandemie aussehen werden. Das gilt nicht nur für Krisen­zeiten. Die Zukunft ist immer offen und von daher auch gestaltbar. Aber in dieser Zeit ist diese Tatsache besonders offensichtlich. Deswegen ist jetzt ein guter Zeitpunkt, den Grundauftrag der Kirche, „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (Lumen gentium 1) zu sein, vor dem Hintergrund der Megatrends neu zu denken. Die Megatrends Individualisierung, Konnektivität und Mobilität, Ökologie sowie Gesundheit weisen auf die Bedürfnisse der Menschen hin, helfen, Schwerpunkte in der Pastoral zu setzen, machen deutlich, dass der Umgang mit immer größerer Ver­schiedenheit eine der großen Aufgaben der Zukunft sein wird, und geben Ideen für neue Entwicklungen, damit der Grundauftrag der Kirche heute erfüllt werden kann.