Inhalt

Zum Verhältnis von Zukunft und Christentum

Judith Klaiber nähert sich auf zwei Pfaden der Frage nach der Zukunft des Christentums: zum einen mit der Perspektive religionssoziologischer Dis­kurse, die eine zunehmende Pluralisierung und Säkularisierung von Religion konstatieren, zum anderen mithilfe von Methoden der Extrapolation von Zukunft z. B. in Foresight-Prozessen. Für die Kirche zeigen sich damit krisenhafte Strukturschwächen, die bislang noch kaum zukunftsfähig bearbeitet worden sind.

Die Thesen um eine mögliche Kompatibilität von „Religion“ und „(Post‑/‌Spät‑)​Moderne“ sind auch heute noch ein gängiges Narrativ in der Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Gesellschaft. Säku­larisierungs-Theoreme rund um eine Trennung von Staat und Kirche missachten jedoch oftmals die Bedingung der Möglichkeit einer absolu­ten Trennschärfe: Die beiden genannten Größen sind hauptsächlich in­stitutioneller Art; doch geistes- und gesellschaftsgeschichtlich bedingt ist die Frage zu stellen, ob und wie das Verhältnis von Gesellschaft und Religion(en) zukunftsfähig gestaltet werden kann. Bereits 2000 adres­sierte Franz-Xaver Kaufmann die „Frage nach der Zukunft des Christen­tums unter den Bedingungen der entfalteten Moderne“ (Kaufmann 2011, 98). Zugespitzter formuliert ist z. B. für Peter L. Berger die „Schlüsselfrage für alle Gesellschaften und alle Religionen: Wie ver­halten sie sich zur religiösen Pluralität?“ (Polak/‌Seewann 2019, 94). War in den vergangenen 30 Jahren lange Zeit die Diskussion im „religiösen Feld“ um Polaritäten von entweder einer „Wiederkehr der Religion“ als „Megatrend“ oder der Abflachung des Religiösen als „Megaflop“ ge­prägt, so ist spätestens seit den 2000er Jahren die Rückkehr von Religion zu markieren: „Religion war […] zum Politikum geworden“ (ebd. 90). Insbesondere der Islam wurde dabei als Negativfolie und „Distinktions­marker“ stilisiert (ebd. 94), dennoch sei Religion ein Thema mit beein­druckender Pluralität und Komplexität (ebd. 134). „Europa ist insge­samt zwar ein nach wie vor christlich und insbesondere konfessionell geprägter Raum, Prozesse der Säkularisierung und Pluralisierung von Religion schreiten aber kontinuierlich voran“ (Polak 2020). Die gesell­schaftliche Herausforderung liegt also im Umgang mit Religionen in ihrem Plural und die religiöse Herausforderung im Umgang mit „modernen Gesellschaften“ (Rosa 2018, 15) in ihrem Plural.

Religionssoziologische Diskurse

Im Horizont einer „entfalteten Moderne“, die sich durch Veränderlich­keit und Legitimitätswandel auszeichnet, hat Franz-Xaver Kaufmann vor 20 Jahren verschiedene Merkmale festgehalten, die das Verhältnis von Christentum und Zukunft charakterisieren (Kaufmann 2011, 98 f.). Die in den vergangenen Jahren offensichtlich gewordene „nicht mehr zu vereinheitlichende Pluralität der Sinnstrukturen“ trifft zum einen das einstmalige Deutungsmonopol von Religion, das verloren gegangen ist. Zum anderen aber auch die inhärente Struktur des Christentums: „Der Begriff des Christentums ist auf vergangene Ereignisse und auf Traditio­nen bezogen, die diese Ereignisse interpretieren; es erscheint deshalb im Sinne unseres Modernitätsbegriffes als notwendigerweise ‚unmodern‘“ (ebd. 100). Der der Moderne inhärente Veränderungsdruck treffe nun auch das Christentum selbst: „Man kann die postmoderne Situation des Christentums daher insofern als paradox bezeichnen, als von ihm eine die kulturellen und moralischen Orientierungen stabilisierende Leis­tung erwartet wird, aber gleichzeitig seine ‚Rückständigkeit‘ beklagt wird“ (ebd. 101).

Auch Polak und Seewann geben in ihrer bemerkenswerten Analyse der religionsspezifischen Fragestellungen aus der Europäischen Wertestu­die 2017/‌2018 zu bedenken, dass von einer erhöhten und polarisierten Aufmerksamkeit für Religion im Zuge von globalen religionspolitischen Entwicklungen wie z. B. Migrationsbewegungen zu sprechen sei: „Diese muss mit einer Intensivierung individueller Religiosität nur wenig zu tun haben, wohl aber mit dynamisierten Pluralisierungsprozessen im religiösen Feld“ (Polak/‌Seewann 2019, 93). So habe Religion in den vergangenen Jahren gesellschaftlich an Bedeutung gewonnen. Kaufmann erörtert weiter das einstmals konstruktive Paradigma der christlichen Inkulturation, das es ermöglichte, die „Botschaft stets erneut im Lichte unterschiedlicher Kulturen auszulegen“ (Kaufmann 2011, 101). Dieses einst erfolgreiche Paradigma scheint in einer (spät‑/‌post‑)​modernen Phase jedoch in sein Gegenteil zu kippen und zu einer Art „Exkulturation“ des christlichen Gottesglaubens aus moder­nen Gesellschaften (R. Bucher) zu führen: Entkirchlichung, Entkonfes­sionalisierung und ein Plausibilitätsverlust des christlichen Gottglau­bens seien die Symptome (vgl. ebd. 102). Gründe hierfür sieht Kauf­mann im Recht auf Religionsfreiheit, in der Auflösung von Milieubin­dungen und in Legitimitätsverlust sowie in einer Optionserweiterung. Jedoch sei eben, auch ungeachtet von „Krisenzeiten“, zu konstatieren, dass nicht mehr nur christliche Kirchen Antworten auf zentrale Lebens­fragen geben können – damit sei das einstmalige Deutungsmonopol von Religion als Antwortgeberin auf existentielle Fragen zunichte: „Die Kir­che(n) verlieren ihre Funktion sozialer Kontrolle; individuelle und insti­tutionalisierte Religiosität entkoppeln sich, d. h. dass zunehmend mehr Menschen der Ansicht sind, dass man auch ohne kirchliche Zugehörig­keit und Praxis religiös sein könne“ (Polak/‌Seewann 2019, 97).

Im „Ernstfall der (Post‑)​Moderne“ sei der Einzelne zudem zunehmend vor die Herausforderung gestellt, sich ohne lebensweltlich stabilisie­rende Vorgaben selbst erfinden und eine Vielzahl an persönlichen Entscheidungen treffen zu müssen: Identität, Werteentstehung und religiöse Erfahrungen seien höchst individuelle und intime Entschei­dungen, die heutzutage „weit heterogener […] weit vielfältiger aus­fallen“ (Kaufmann 2011, 116). Der Verlust lebensweltlicher Stützen, die der Tradierung des christlichen Glaubens abhandengekommen seien, und die gleichzeitige Herausforderung der individuellen biographischen Arbeit scheinen einen Akt persönlicher Bekehrung zu benötigen, um das Trotzdem-Christ-Bleiben erklären zu können (vgl. ebd. 124). Die Daten der Europäischen Wertestudie 2017/‌2018 weisen jedoch auf eine ver­gleichsweise stabile individuelle Religiosität hin, die durch die Selbst­bezeichnung als „religiös“, das Beten außerhalb von Gottesdiensten und die Wichtigkeit von Religion und Gott im Leben charakterisiert sei (Polak/​Seewann 2019, 106). Die Dimension der Glaubensinhalte be­zeichnet das Was und Woran des Glaubens. Insbesondere in den Fragen nach einem Weiterleben nach dem Tod stellen Polak und Seewann Ver­änderungen fest: „Säkulare Vorstellungen, dass das Leben seinen Sinn in sich selbst trägt und Naturgesetze das Leben bestimmen, dominieren und verweisen auf das kulturelle Deutungsprimat von Naturwissen­schaft und einer immanenzorientierten Weltsicht, der auch von reli­giösen Menschen zunehmend mehr Plausibilität eingeräumt wird“ (ebd. 116).

Die kulturelle Präsenz des Christentums hängt nach Kaufmann u. a. von der Lebendigkeit einer Gebets- und Kultpraxis, der Eindringlichkeit der öffentlichen Darstellung von Sinngehalten oder der Qualität theologi­scher Auseinandersetzungen im Rahmen von konkurrierenden Welt­deutungen ab (vgl. Kaufmann 2011, 177). Die soziale Dimension von Religiosität ist als Inhalt, Form, Funktion und Organisation markiert, die von anderen geprägt und mit anderen gemeinsam gebildet und ausgeübt wird. Die Marker hierfür sind Teilnahme an Gottesdiensten/‌ Freitagsgebeten, das Engagement in religiösen Organisationen und das Vertrauen in die Kirche. Diese soziale Dimension von Religion gewinne an Bedeutung, konstatieren Polak und Seewann und liefern als Begrün­dung die Suche nach sozia­lem Anschluss: „Vielleicht lässt sich dieses Phänomen dadurch erklären, dass der Höhepunkt der Individualisie­rung von Religion, den wir bereits 2000 konstatiert hatten […], mitt­lerweile überschritten ist, und Menschen wieder verstärkt nach so­zialem Anschluss oder auf der Suche nach Sinn nach sozialem Enga­gement suchen, wofür die Kirchen nach wie vor viele Andockmöglich­keiten bieten“ (Polak/​Seewann 2019, 109). Die derzeitige kirchliche Präsenz, mit einem stark verrechtlichten Kirchenverständnis, scheint einer sozialen Vermittlung des Glaubens eher abträglich zu sein. Die Frage nach gesellschaftlicher Nützlichkeit von Kirchen sei durch die Prozesse der Globalisierung nochmals verschärft und mache die Not­wendigkeit plausibler Antworten, inklusive einer Glaubwürdigkeit der kirchlichen Existenznotwendigkeit, brisant (vgl. Kaufmann 2011, 122–124).

„Europa ist insgesamt zwar ein nach wie vor christlich und insbeson­dere konfessionell geprägter Raum, Prozesse der Säkularisierung und Pluralisierung von Religion schreiten aber kontinuierlich voran. […] Die Entkopplung des Glaubens an Gott vom Phänomen Religion sowie der semantische Wandel im Religionsverständnis, der Rückgang traditio­nell-kirchlicher Praxisformen, die veränderte Qualität religiöser Erfah­rungen und Erwartungen an Religion sowie die Politisierung von Reli­gion legen jedenfalls pastoraltheologisch nahe, der Frage nach und dem Verständnis der Menschen von Gott verstärkt Augenmerk zu schenken und dies unterschieden von religiösen Selbstkonzepten und konfessio­nellen bzw. institutionellen Zugehörigkeiten zu erforschen“ – so ein erstes Fazit von Regina Polak zu den religionsspezifischen Daten der Europäischen Wertestudie aus 2017/‌2018 (Polak 2020).

Foresight-Diskurse

Einen weiteren produktiven Zugang zur Klärung des Verhältnisses von Zukunft und Christentum bieten Methoden zur Extrapolation von Zu­kunft, die sich in Organisationsentwicklungsprozessen in Politik, Wirt­schaft und Verwaltung etabliert haben. „Beobachtungen und Erkennt­nisse der Vergangenheit und Gegenwart [werden] unter Nutzung ver­schiedenster Studien in die nächsten Jahrzehnte“ extrapoliert, um Zukunftsbilder zu entwickeln (Wilhelmer/‌Nagel 2013, 9).

Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) beauf­tragte Zukunftsbüro des Foresight-Prozesses der Prognos AG und der Z_punkt GmbH hat die Studie „Zukunft von Wertvorstellungen der Menschen in unserem Land“ kürzlich veröffentlicht. „Die Aufgabe von strategischer Vorausschau ist es, technologische, ökonomische, recht­liche oder geopolitische Entwicklungen frühzeitig zu antizipieren, sie zueinander in Beziehung zu setzen und mögliche Bruchlinien zu identi­fizieren“ (Klaus u. a. 2020, 7). Mithilfe der Szenariotechnik, einer gut erprobten Vorhersage-Methode, wurden in dieser Studie insgesamt sechs verschiedene mögliche Zukunftsszenarien für Deutschland in den 2030er Jahren vorgelegt. Auf Basis einer Wertestudie des Allensbach-Instituts wurden diese sechs Zukunftsbilder entwickelt, die anhand von Fortschreibungen bekannter Muster, grundlegenden Veränderungen und disruptiven Umbrüchen kriteriologisch charakterisiert wurden (ebd. 87).

Die heutige Wertelandschaft Deutschlands sei in insgesamt zehn Werte­gruppen unterteilt: soziale, bewusstseinsorientierte, gemeinschaftsbe­zogene, selbstbestimmungsorientierte, politikorientierte, leistungsbe­zogene/‌materialistische, hedonistische, normorientierte, gestaltungs­orientierte und traditionsorientierte Werte (vgl. ebd. 38 f.). Religion wird in dieser Aufteilung in der traditionsorientierten Wertegruppe genannt: „Die traditionsorientierten Werte sind in der Regel Werte wie Religion, Konservatismus oder Nationalstolz, d. h. Werte, die in frühe­ren Zeiten sehr wichtig waren, inzwischen aber grundlegend an Bedeu­tung verloren haben“ (ebd. 39). Generell wird in der Studie ersichtlich, dass Religion vor allem älteren Menschen, Bildungsarmen und Men­schen mit Migrationshintergrund sowie aus den alten Bundesländern wichtig ist. Dies sei einem Trend zur Säkularisierung geschuldet, der Wertorientierungen nicht mehr notwendigerweise an Religion und Glauben bindet (vgl. ebd. 59): „Jedes Jahr verlieren europäische Kirchen mehr Mitglieder, als sie gewinnen“ (ebd. 213); wobei jedoch die Ver­mittlung von Sitten und Gebräuchen (z. B. durch Religion oder Familie) laut der Europäische Wertestudie 2017/‌2018 eine leichte Tendenz, wichtiger zu werden, verzeichne. Dennoch schwankt die Relevanz von Religiosität je nach sozioökonomischen Merkmalen wie Alter, Bildung und Herkunft (vgl. ebd. 213). In der Befragung nach individuellen und in der Gesellschaft verbreiteten Werten im Heute rangiert Religion, bzw. eine feste Glaubensüberzeugung, auf den hinteren Rängen: Nur 20 % (individuell) und 13 % (kollektiv) halten Religion für „besonders wich­tig“. Religiös konnotierte Handlungen oder Reflexionen, wie z. B. die Auseinandersetzung mit Sinnfragen des Lebens, in Not geratenen Men­schen zu helfen oder sich für soziale Gerechtigkeit einzusetzen, werden tendenziell als „wichtiger“ bewertet, aber explizit unabhängig von einer spezifischen Religionsüberzeugung oder Zugehörigkeit zu einer be­stimmten Religionsgemeinschaft betrachtet. Gleichwohl werden Glau­bensgemeinschaften (Kirche, spirituelle Gemeinschaft etc.) als Instan­zen von Wertevermittlung und -bildung wie zivilgesellschaftliche und politische Organisationen und Freizeitorganisationen positiv angenom­men (ebd. 177). Gerade im zivilgesellschaftlichen Engagement in Deutschland ist fast die Hälfte der Bevölkerung aktiv, vor allem in Ver­einen, Verbänden oder Kirchengemeinden (ebd. 49). Zudem haben ge­meinschaftsbezogene Werte (diese „beschreiben Bereiche, die auf die Zusammengehörigkeit von Gruppen oder auch ganzer Gesellschaften abzielen. Der allgemeine Zusammenhalt, die soziale Hilfsbereitschaft und die Toleranz gegenüber anderen stehen im Vordergrund“; ebd. 38) für Frauen* und Kirchenmitglieder einen höheren Stellenwert (vgl. ebd. 49). Dennoch wird eine Abschwächung des Zusammenhalts von Gesellschaften konstatiert. Die Gründe dafür sehen die Respondie­renden hauptsächlich im Anstieg sozialer Unterschiede und der Zunah­me von Egoismus, kaum jedoch im Verlust des kirchlichen Einflusses (vgl. ebd. 182). Bemerkenswert ist, dass die Frage danach, was Men­schen in Deutschland nach Merkmalen trennt und unterscheidet, 34,9 % (West) und 37,3 % (Ost) der Respondieren­den mit Religion, noch vor Merkmalen wie Familie und Beruf, beantworten (vgl. ebd. 183). Damit wird die These von Polak/ Seewann, dass Religion als Distink­tionsmarker fungiert, unterstützt.

Auf Basis dieser umfassenden Gegenwartsanalyse von Werten und Werteeinstellungen in Deutschland wurden mögliche Zukunftsbilder generiert: „Angesichts der prinzipiellen Unsicherheit zukünftiger Ent­wicklungen und einer zunehmenden systemischen Komplexität ist es […] zielführender, über die Extrapolation der Erwartungshaltungen und Zukunftswünsche hinaus eine Exploration alternativer Zukünfte über Szenarien durchzuführen“ (ebd. 84).

Die sechs näherhin untersuchten Zukunftsszenarien sind:

  • Der europäische Weg: „Europa geht einen eigenen Weg: In den 2030ern ist Deutschland eingebettet in ein handlungsfähiges Europa, das eine nachhaltige und innovationsfreundliche Agenda vorantreibt, um sich im harten globalen Wettbewerb zu behaup­ten“ (ebd. 88).
  • Wettbewerbsmodus: „Wettbewerb als Handlungsmaxime: In den 2030ern ist Deutschland geprägt von einem neuen Dynamisie­rungs­paradigma und einem hohen Maß an Eigeninitiative in der Bevöl­kerung“ (ebd. 97).
  • Rückkehr der Blöcke: „Abschottung statt Exportnation: In den 2030ern ist Deutschland geprägt von sozialen Herausforderungen und einem schwierigen geopolitischen Umfeld“ (ebd. 106).
  • Tempounterschiede: „Ungewollte Bumerangeffekte: In den 2030ern hat der Standort Deutschland infolge geringer Reform­aktivität an Attraktivität verloren, während die gesellschaftliche Polarisierung zugenommen hat“ (ebd. 114).
  • Das Bonus-System: „Neue Zahlenfixierung: In den 2030er Jahren übernimmt ein digitales, partizipativ ausverhandeltes Punkte­system eine zentrale politisch-gesellschaftliche Steuerungs­funktion“ (ebd. 122).
  • Ökologische Regionalisierung: „Experimentierfieber: In den 2030er Jahren zielen soziale Innovationen auf die Verwirklichung einer Vision eines neuen ökonomischen Paradigmas ab“ (ebd. 130).

Diese sechs möglichen Zukunftsszenarien werden detailliert anhand von Fragen: „Was wäre, wenn …“ beschrieben und auf das globale Umfeld und Deutschlands Rolle in der Welt, auf das gesellschaftliche Klima, das politische Umfeld, auf die Wirtschaftswelt, Bildung und Arbeit, den Lebensalltag und die Bedeutung von Technologie hin befragt. Zusammenfassend werden die jeweiligen Szenarien in ihrer Wertelandschaft vorgestellt und insbesondere auf die wertevermit­telnden Instanzen hin untersucht. Dabei wird auch die Rolle von Kir­chen und Religionen sichtbar bzw. eben nicht sichtbar: „Neben den Instanzen der Primär- und Sekundärsozialisation vermitteln weitere tertiäre Sozialisationsinstanzen Werte. Dazu gehören zum einen zivilgesellschaftliche, soziale und politische Organisationen, Kirchen und Glaubensgemeinschaften sowie das Arbeitsumfeld, zum anderen aber auch (klassische) Medien und die Kommunikation im Internet“ (ebd. 22). Lediglich im zweiten Szenario, dem „Wettbewerbsmodus“, kommen Kirchen als eine Art ethisches Korrektiv ins Spiel, „da insbe­sondere bürgerliche Kräfte und Kirchen die Debatte, wo in diesem Bereich die Grenzen unternehmerischer Freiheit liegen, vorantreiben und ethische Grundsatzfragen stellen“ (ebd. 100). In allen weiteren Szenarien werden Kirche(n), Religion(en) und/‌oder Glaubensgemein­schaften nicht explizit benannt bzw. haben keine aktive Rolle in den Zukunftsbildern erhalten. Zugespitzt formuliert heißt das, dass Religion im Deutschland der 2030er Jahre nicht stattfindet. Diese Feststellung kann nun einerseits kritisch an die Studienautor*innen und Zukunfts­bilder-Macher*innen adressiert werden; andererseits ist es für Theo­log*innen eine vielleicht heilsame, wenn auch schockierende Reali­tätsüberprüfung: die der Systemrelevanz – so ein viel bemühtes Narra­tiv in diesem 2020er-Jahr. Gleichwohl hat jedoch Hartmut Rosa die Lebensrelevanz von Kirchen, Religionen und Glaubensgemeinschaften deutlich betont. Denn Religionen und Glaubensgemeinschaften könn­ten Zeit und Raum für die offene Erfahrung der „Unverfügbarkeit“ erleichtern und ermöglichen. Schon Rahner konstatierte, dass die „notwendigen Folgerungen [für die Zukunft; J. K.] aus der Erfahrung der christlichen Gegenwart“ (Rahner 2008, 407) geprägt sein werden und erst vom Woraufhin her richtig gelesen werden können: „Wir wissen dasjenige über die christliche Eschatologie, was wir über den jetzigen heilsgeschichtlichen Zustand des Menschen wissen“ (ebd.).

Ausblick

Im christlichen Idiom gesprochen sind „eschatologische Aussagen die Übersetzung dessen ins Futurische […], was der Mensch als Christ in der Gnade als seine Gegenwart erlebt“ (ebd. 408); weiter gewendet ist die christliche Zukunftsideologie und Futurologie die Reich-Gottes-Bot­schaft, „in der der Christ die absolute Zukunft erwartet, die Gott selbst ist“ (ebd. 420). Das, was aus den religionssoziologischen Diskursen und dem Foresight-Diskurs konstatiert werden kann, ist, dass sich die Zu­kunft des Christentums am Umgang mit religiös-säkularer Pluralität im forum internum als auch im forum externum messen lassen muss. Deut­lich wurden komplexere Entwicklungen sowie überraschende Stabili­täten und nicht, wie zu erwarten, eine weitergehende Erosion der tra­ditionell kirchlich formatierten Religiosität sowie der individuellen Religiosität (vgl. Polak/‌Seewann 2019, 131): Die individuellen Religio­sitäten würden eine erstaunliche Stabilität zeigen; langsamere Verän­derungsprozesse würden stärker mit der demografischen Zusammen­setzung der Bevölkerung zusammenhängen. Dennoch würden „viele Menschen mit dem Transzendenzbezug religiöser Aussagen immer weniger anfangen können“, weshalb „Religion als Deutungsmodell für das gesamte Leben und als im Alltag praktizierte Lebensform […] an Bedeutung verlieren“ könnte (vgl. ebd. 132). Insbesondere würden Religionsgemeinschaften wohl stärker „unter Druck geraten, die eigene Legitimität und Rationalität begründen zu müssen“ (ebd. 132). Konkre­tisiert auf die römisch-katholische Kirche seien die von Kaufmann vor 20 Jahren aufgezeigten Strukturschwächen als weiterhin brisant anzu­merken: die (fehlende) Auseinandersetzung mit der Moderne, Auflö­sungserscheinungen, die Vergreisung der Klerikerkirche, die Immu­nisierung gegenüber Veränderungsdruck, die römische Kurie, theolo­gische Barrieren, die Macht- und Missbrauchskrise, der Umgang mit Schuld in der Kirche und letztlich eine pathogene Hierarchie (vgl. Kaufmann 2011, 128–170). All diese Desiderate sind immer noch aktuell und kaum unter einer zukunftsfähigen Lösungsperspektive ehrlich be­arbeitet worden. Zugespitzt formuliert sind diese Strukturschwächen auf eine Krise der Repräsentanz, eine Krise der Partizipation, eine Krise der Wahrnehmung und Anerkennung von Lebensrealitäten und letzt­lich eine Führungskrise hin zu deuten.

Diese letzte Markierung – die Führungskrise – könnte mit dem Verhält­nis von „Management“ und „Leadership“ zugespitzt konturiert werden: Für die stabile Aufrechterhaltung und Verwaltung der Organisation ist Management notwendig. Raum für Veränderungen, für das Ungewisse und Neue, für das zukünftig Unverfügbare – theologisch formuliert das „Eschaton“ – kann nicht en détail gemanagt werden, sehr wohl aber gestaltet und forciert. So könnten Management-Techniken als Metapher für spezifische Ausgestaltungen diverser christlicher Kirchen gedeutet werden und eine Leadership-Haltung für das Gesamt der christlichen Religion in Zukunft. Noch spitzer formuliert: Die christliche Botschaft hat definitiv Zukunft; ob aber die getrennten Kirchen zukunftswirksam sein werden, ist offen.

 

Nachtrag: Vor einigen Tagen ist der Berliner Religionsphilosoph Klaus Heinrich verstorben. Kein anderer hat so sensibel und präzise die Bedro­hungsszenarien menschlicher Gesellschaften beschreiben und in mythologische Kontinuität setzen können wie er. Lohnenswert wäre es für einen weiteren auszufaltenden Gedankengang, die drei Ängste aus seinen Schriften „Versuch über die Schwierigkeit Nein zu sagen“ und „Parmenides und Jona“ (die 2020 zum Glück neuaufgelegt werden: Heinrich 2020a und 2020b) auf die römisch-katholische Kirche als Sakrament, Werkzeug und Instrument für das Reich Gottes zu über­tragen. Nur in Ansätzen, deren Erschütterung uns zum Fragen und Handeln zwingen soll, ist das hier im Nachgang noch möglich und bedürfte mehr Zeit zum Entfalten.

  • Die Angst, mit nichts identisch zu sein: Die Furcht vor Einsamkeit und Isolation drängt Menschen dazu, sich mit allem und jedem zu identi­fizieren. Und genau darin beliebig und nicht einzig zu wer­den. Das ist die Bedrohung des Identitätsverlustes.
  • Die Angst, keine Sprache zu haben: Sprache schafft Welt immer wie­der neu, ist eine Form von Repräsentation und setzt Welt und Men­schen in Beziehung zueinander. In Übersetzungen kann Versöhnung erfolgen. Die Gefahr liegt im Sich-nicht-mehr-verständigen-Können und -Wollen. Das ist die Bedrohung des Sprachverlustes.
  • Die Angst vor Selbstzerstörung: Darin liegt eine paradoxe Struktur. Die Angst vor Selbstzerstörung führt Menschen in selbstzerstöre­rische Prozesse, letztlich zu einem in sich verkrümmten Menschen. Das ist die Bedrohung der Sinnlosigkeit.

Heinrich bietet zwei Antwortoptionen auf diese Bedrohungen an: die des Restes und die des Protestes (vgl. Stadlbaur 2014). Die Antwort des Restes versucht, den drei Bedrohungen zu entgehen, indem sie die Bedrohungen aus dem Bereich des Lebens einfach ausgrenzt und sie übergeht. Die Antwort des Protestes versucht, das Ausgeschlossene mit einzuschließen und gemeinsam gegen die Bedrohungen in Widerstand zu gehen – also einen Bund zu schließen und diesem Bund aber auch die Treue zu halten. Was ist die Identität der römisch-katholischen Kirche, also ihr Kern? Was ist ihre Sprache, also ihr aggiornamento? Und was ist ihr Sinn, also ihr Eschaton? Die aufrichtige Auseinandersetzung mit diesem Modell und das partizipative Antwortfinden wäre eine der Leadership-Aufgaben schlechthin.