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Option für die Suchenden als Impuls für eine (Großstadt-)Pastoral der Zukunft

Empirische Studien führen kirchliche Erosionsprozesse deutlich vor Augen, und durch die Corona-Pandemie werden diese Tendenzen noch zusätzlich verstärkt. Angesichts dessen wirbt Monika Kling-Witzenhausen für eine Option für die Suchenden, die die Leutetheologien der Menschen ernstnimmt und die Frage nach dem Wozu von Kirche nicht scheut.

Wie wird die Pastoral, insbesondere eine zeitgemäße Pastoral in der Großstadt, in den nächsten Jahrzehnten aussehen? Welche Angebote, Kooperation und Gemeinschaftsformen und vor allem welche Themen werden zentral sein? Wer rückt in den Fokus?

Auch wenn diese Fragen nicht eindeutig zu beantworten sind, helfen uns derzeitige Entwicklungen sowie empirische Untersuchungen bei der Richtungsanzeige und bei der Entscheidung für handlungsleitende Optionen. Eines vorweg: Ja, die Kirchenmitglieder werden weniger wer­den und das hat Auswirkungen auf finanzielle wie personelle Ressour­cen. Doch anstatt zu klagen, gilt es, dieser Tatsache ins Auge zu blicken und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.

Die derzeit vorherrschende Corona-Pandemie wirkt dabei wie ein Brennglas, das uns die verschiedenen Entwicklungen und Probleman­zeigen geradezu „vor die Nase hält“. Auch macht sie noch einmal deut­lich, wie sich angebliche Sicherheiten verflüchtigen – auch und insbe­sondere in der Kirche und Pastoral.

Reichweite derzeitiger pastoraler Angebote und Bemühungen

Bereits seit mehreren Jahren führen uns religionssoziologische Unter­suchungen drastisch vor Augen, dass Kirche nur noch einen kleinen Teil der Bevölkerung erreicht. Das Erschrecken, das die Sinus-Milieu-Stu­dien in den Jahren 2005 und 2013 ausgelöst hatten, ist m. E. mittler­weile wieder in den Hintergrund gerückt. Nichtsdestotrotz hat sich die damals festgestellte Problematik, dass die katholische Kirche nur noch in maximal drei von zehn lebensweltlichen Milieus in Deutschland beheimatet ist, nicht aufgelöst. Vielmehr ist diese Milieuverengung auf Menschen, die dem traditionellen Milieu, dem konservativ-etablierten Milieu und der Bürgerlichen Mitte entstammen, verstärkt wahrzuneh­men. Hier stellt sich die drängende Frage, wie Angebote für Angehörige aus „anderen“ Milieus gestaltet werden können, wenn gerade auch ein Großteil der pastoralen Mitarbeitenden aus den „kirchenaffinen“ Milieus stammt.

Zu diesen Milieuverengungen gesellen sich eine „im Vollzug sich ein­stel­lende Indifferenz“ (Pollack/‌Rosta 2015, 466) sowie ein inter­gene­ratio­nelles Ausschleifen der lebensweltlichen Bedeutsamkeit des Glaubens. Bei der Entscheidung für oder gegen Kirche – und sei es nur für oder gegen einen Gottesdienstbesuch – sind es weniger die kir­chen­intern diskutierten Gründe als persönliche Prioritätenverschiebungen hin zu den großen privaten Handlungsfeldern Partnerschaft und Familie sowie Beruf und Freundschaft. Dieses „pragmatische Desinteresse“ (ebd.) den Kirchen gegenüber spitzt die Studie „Kirchenmitglied bleiben?“ (Calmbach/‌Flaig/‌Möller-Slawinski 2018) mit ihrem Fazit zu: 41 % der deutschsprachigen Katholik*innen sind austrittsgefährdet.

Kirchenmitgliederzahlen halbieren sich bis 2060

Spätestens seit der Veröffentlichung der sogenannten Projektion 2060 ist der dramatische Mitgliederschwund, der der katholischen wie evan­gelischen Kirche in Deutschland in den nächsten 40 Jahren droht, un­übersehbar. Das Forschungszentrum Generationenverträge an der Universität Freiburg ermittelte 2018/19 im Auftrag der DBK und EKD einen eklatanten Schwund an Kirchenmitgliedern von ca. 23 Millionen (so der Stand 2017) auf ca. 12 Millionen im Jahr 2060. Mit einher geht der Verlust an Finanzkraft, ein Befund, der noch brisanter dadurch wird, wenn man sich dessen bewusst wird, dass ein Großteil des Haushaltes der Bistümer in Personalkosten fließt. Es sind besonders die jungen Erwachsenen, die Handlungsbedarf erkennen lassen, denn der Kirchen­austritt findet zumeist im Alter zwischen 20 und 34 Jahren statt. Die Kirchensteuer, die insbesondere in kirchlichen Kreisen oft als Austritts­grund genannt wird, ist hier jedoch nur der Anlass für den Austritt, dem ein Prozess der Entfremdung bzw. eine fehlende Bindung vorausgehen. Riegel, Kröck und Faix (2018, 188 f.) stellen im Rahmen der Studie „Kirchenaustritt – oder nicht?“ des Bistums Essen ein idealtypisches Modell für einen Kirchenaustritt vor. Ausgehend von der Mitgliedschaft durch die (Kinds-)Taufe sind es sogenannte „verursachende Motive“ wie Glaubenszweifel, Erscheinungsbild der Kirche, Diskrepanz zu ethischen Positionen sowie die als rückständig empfundene Haltung der Kirche, die zu einer Entfremdung bzw. zu einer abnehmenden Bindung führen. Diese Entfremdung bzw. fehlende Bindung sind „bestimmende Motive“ für einen Kirchenaustritt, ein persönlich enttäuschendes Erlebnis mit bzw. in der Kirche oder die Kirchensteuer geben dann letztlich den Anlass zum Kirchenaustritt.

Entfremdungsprozesse werden durch Corona-Pandemie aufgedeckt und verstärkt

Ich denke, dass durch die Corona-Pandemie diese Prozesse sogar ver­stärkt wurden und werden: Zahlreiche Kirchenmitglieder waren zutiefst enttäuscht angesichts geschlossener Kirchen und im Angesicht einer als zu schwach empfundenen pastoralen Präsenz während des ersten Lock­downs. Andere Gläubige wiederum bemängeln, dass Gemeinden die Möglichkeit zum Gottesdienst nutzen trotz der Aufforderung zur Kon­taktreduktion. Die auch weiterhin katastrophale Außenwirkung durch die zahlreichen negativen Schlagzeilen (Aufarbeitung von sexuellem wie spirituellem Missbrauch, Finanzskandale etc.) ist hier zudem wenig förderlich, dem Entfremdungsprozess bei vielen Kirchenmitgliedern entgegenzuwirken.

Für mich sind daher zwei Fragen besonders virulent: Es ist einerseits die Frage nach dem „Kirche wie und wozu?“ und andererseits die nach Empowerment in Glaubensfragen als eine pastorale Hauptaufgabe.

Mir geht es hier weniger darum, die Frage nach der Systemrelevanz von Kirche zu stellen. Aber die Sinnkrise, die insbesondere der erste Lock­down bei einem Teil des pastoralen Personals ausgelöst hat, ist paradig­ma­tisch. Das weiterhin gut bezahlte Personal (ich gehöre auch dazu) wurde in seinem klassischen Aufgabenprofil weniger gebraucht, Face-to-Face-Begegnungen oder Gremiensitzungen als Präsenzveranstaltung waren nicht möglich.

Ja, es ist sehr viel Kreatives und Spontanes entstanden, Phantasie und Improvisationstalent waren gefragt, auf einmal hieß es nicht: „Das geht doch nicht, das haben wir noch nie so gemacht“, sondern: „Jetzt müssen wir halt kreativ sein und ausprobieren!“ Viele neue, kreative und inno­vative Formate wurden entwickelt und umgesetzt. Junge Erwachsene tauschten sich bei Events über geplatzte Urlaubsträume und die wach­sende Angst vor einem Jobverlust aus, andere Gläubige fanden in Tele­fonandachten eine Stärkung. Ja, zumindest das war etwas zutiefst Positives! Man kann mittlerweile sogar erfreut von einem Digitalisie­rungsschwung auf Seiten der Kirchen sprechen, darf dabei jedoch auch nicht verschweigen, dass hier letztendlich jahrzehntelang vieles ver­säumt worden ist. Hier kann nur gehofft werden, dass die Präsenz in den sozialen Medien, Online-Angebote, digitale Sitzungs- und Veranstal­tungsformate beibehalten bzw. ausgebaut werden. (Hempelmann u. a. [2020] bieten mit ihrem Buch „Milieusensible Kommunikation des Evangeliums“ und insbesondere mit den dort abgedruckten Kurzüber­sichten eine schnell zugängliche und äußerst hilfreiche Darstellung der medialen Präferenzen der einzelnen Milieus.)

Und doch wurde ein „Abbruch“ beobachtbar: Selbst viele der Menschen, die letztens noch an pastoralen Angeboten bzw. an den Gottesdiensten teilgenommen bzw. diese mitgestaltet haben, merken nun, dass es auch „ohne“ diese geht. Hochengagierte Frauen berichten, dass sie ihre Spiri­tualität nicht mehr in den klassischen, von Männern geleiteten Eucha­ristiefeiern wiederfinden, junge Familien und Menschen aus Risiko­gruppen lernen gestreamte Angebote schätzen, die geringe Anzahl an Abendterminen und zeitlich kompaktere Videokonferenzen erfreuen Ehren- wie Hauptamtliche. Die Zeit „nach“ Corona wird also keine Pastoral wie „vor“ Corona zulassen. Hier gilt es, Bestehendes „weiter“ zu denken: Ja, Kirche ist divers, eine Engführung auf den Sonntagsgottes­dienst genauso wie auf die Gemeinde ist zu überwinden: „Kirche“ fin­det an verschiedenen Orten statt, in den Kirchengebäuden, aber auch auf den Straßen, in den Ein-Zimmer-Wohnungen, den WG-Zimmern und an den Küchentischen der Einzelnen. Daher: Wo ereignet sich Kirche? Wo wollen wir als Kirche sichtbar und spürbar sein? Wie? Und wozu?

Option für die Suchenden als (letzte) Chance?

Für eine Großstadtpastoral der Zukunft ist die Frage nach dem „Machen wir weiter wie bisher?“ bereits mit einem klaren Nein beantwortet. Die klassische „Pastoral der Rahmung“ (Bacq), also einer lebenslangen Ver­ortung bzw. Vergemeinschaftung in Territorialgemeinden, ist mehrheit­lich nicht mehr ansprechend. (Religiöse) Zugehörigkeiten gestalten sich heute plural und individuell, letztendlich muss man sagen: Niemand – oder wenn, dann nur wenige – wartet auf unser Programm.

Die große Frage der nächsten Jahre wird meiner Meinung nach sein, welche Formate, Gemeinschaftsformen bzw. Sozialformen wir neben den klassischen Kirchengemeinden ausprobieren, wiederentdecken und stark machen. Wenn wir uns bewusst machen, dass ein Großteil des pastoralen Personals die 5 bis 10 % bedienen, die „eben da sind“ in den Gottesdiensten und Gemeindeveranstaltungen, müsste uns eigentlich das Herz bluten. Denn was ist mit den anderen 90 bis 95 %?

Hier braucht es die z. B. von Tomáš Halík stark gemachte Hinwendung zu den „Zachäus-Gestalten“ (2012, 23) von heute, den Suchenden oder auch den Schwellenchrist*innen, die eher distanziert sind zu all dem, was in den Kirchen(gemeinden) passiert, aber an Glaubensfragen in­teressiert sind. Eine vorrangige „Option für die Suchenden“ ist dann kein weiteres Projekt oder die Initialzündung für eine neue Angebots­flut, sondern sie ist eine Grundhaltung, die ein Miteinander im Suchen und Finden spürbar werden lässt. Dann geht es auch nicht um eine Pastoral „für“ eine Gruppe, sondern um eine Pastoral, die „von“ dieser Gruppe her gedacht und entwickelt wird, am besten „mit“ ihr. Eine Pastoral von/‌für/‌mit Suchenden zu entwickeln, wäre also eine der Hauptaufgaben für die Zukunft. Nehmen wir zum Beispiel die spirituell Suchenden. Während Spiritualität „boomt“, in den Buchhandlungen wöchentlich neue Ratgeber vorgestellt werden und Coaches wie Laura Malina Sailer zehntausende Menschen dabei begleiten, in ihrer eigenen Spiritualität und „Schöpferkraft“ zu wachsen, ist es auf kirchlicher Seite hier sehr ruhig. Zu ruhig.

Hier liegt eine Chance, und zwar die Chance, Menschen in ihren Leute­theologien, also in ihren eigenen theologischen Standpunkten und Suchbewegungen zu stärken (vgl. Kling-Witzenhausen 2020). Es ist eine fundamentalpastorale Entscheidung, ob Menschen in ihren eigenen theologischen Ansichten und Antworten als Leutetheolog*innen ange­sehen werden oder nicht. Hier hat die Corona-Pandemie z. B. offenbart, dass viele Gläubige, selbst hochengagierte Kirchenmitglieder, sich nicht imstande bzw. befähigt fühlen, selbst eigene Gebete zu sprechen bzw. Glaubensrituale zu entwickeln oder durchzuführen. Wäre hier nicht eine Aufgabe der Pastoral benannt, Menschen in ihrem Wachstum als Menschen und Glaubende zu begleiten? Und dabei die Fülle und Tiefe der Leutetheologien mit ihnen zu entdecken?

Baustellen heute und in der Zukunft

Die bisher benannten Gedankensplitter machen deutlich, dass es zahlreiche „Baustellen“ für eine zukunftsfähige und menschennahe Großstadtpastoral gibt. Gleichwohl bietet die räumliche Nähe in der Großstadt und die Dichte an pastoralen Angeboten noch einmal mehr die Möglichkeit zu Kooperationen oder Fokussierungen. Diese sind meiner Meinung nach unbedingt notwendig, genauso wie die kirchen­internen Veränderungsprozesse (Stichwort: Synodaler Weg) und Strukturprozesse (Stichwort: größere pastorale Räume usw.). Diese können jedoch nur notwendige Bedingungen schaffen dadurch, dass jetzt Entscheidungen getroffen, Schwerpunkte gesetzt, Synergien genutzt werden und Überholtes „gelassen“ wird. Menschen warten nicht mit ihren Fragen, Antworten, Anliegen, bis wir diese Reform­prozesse end­lich angegangen sind oder sie erfolgreich hinter uns gebracht haben.

Es braucht also noch mehr, vor allem Mut und Ehrlichkeit.

Ehrlichkeit: Wir wissen nicht, wie es geht …, aber wir wissen: So geht es nicht weiter
Wer den Satz: „So geht es nicht weiter!“ schon einmal im privaten oder beruflichen Kontext ausgesprochen hat, weiß, wie schmerzhaft er sein kann. Und auch mit Blick auf die pastorale Situation ist er zutiefst schmerzhaft. Doch er wäre der erste Schritt in die Zukunft: kein Schön­reden, kein Wegschauen, sondern der erste vorsichtige Schritt, der einen offenen und kreativen Prozess anstößt – ohne Verlustangst und Angst vor dem Scheitern. Für mich könnte das bedeuten: alte Rollenbilder über Bord werfen und losgehen. Die Evangelische Kirche in Mittel­deutschland gibt mit ihrer Initiative für Erprobungsräume eine Rich­tung vor. Die Erlangung einer neuen Sprachfähigkeit und eine kreative Diversifikation, also eine Ausweitung unserer Angebote und „Pro­dukte“, könnten erste Schritte bedeuten, z. B. eine Geh-hin-Pastoral, Angebote für Singles, für Menschen in Patchworkfamilien, für junge Erwachsene, oder Veranstaltungen, die den eigenen Tod in den Blick nehmen und christliche Spiritualität als Kraftquelle vorstellen. Das werden dann Angebote sein, zu denen ein einmaliges Kommen möglich ist und dann vielleicht wieder ein Dazukommen beim übernächsten Mal, wenn das Thema wieder zu den persönlichen Fragen oder dem eigenen Terminkalender passt.

Die Zusammenarbeit und Kooperationen über Gemeinde-, Konfessions- und Kulturgrenzen hinweg wären ein weiterer Schritt in die Zukunft und eine Lösung, um a) Ressourcen zu bündeln und b) ein größeres Zielpublikum zu erreichen. Dabei werden dann auch endlich soge­nannte „deutsche“ und muttersprachliche Gemeinden zusammenarbei­ten. Ein wichtiger weiterer Schritt wäre es folglich auch, den pastoralen Nachwuchs nicht für die Vergangenheit, sondern für die Zukunft auszubilden.

Es braucht also Mut. Insbesondere auch, um uns die Frage nach dem Wozu zu stellen
Und es stellt sich die Frage, ob wir gesellschaftlich antreffbar und wirksam werden bzw. bleiben wollen, trotz der Tatsache, dass wir weniger werden. Dafür stünden zahlreiche sozialethische Themen auf der Tagesordnung, es sind die urbanen Gegenwartsphänomene der Vereinsamung, der Entwurzelung, der segregierten Wohnviertel. Dazu zählen auch beobachtbare Armut, Gewalt, Fremdenfeindlichkeiten und Ungerechtigkeiten. Wie wäre es, Anwältin für ein gutes Miteinander in den Quartieren und der Nachbarschaft zu sein, für bezahlbaren Wohn­raum und für all die Gruppen, die so oft überhört werden? Wozu? Die Bibel nennt es „Leben in Fülle“ (Joh 10,10).